Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
so wohlverdient waren? Was sie getan hatte, war durch nichts zu rechtfertigen. Ihr war übel vor Scham und Schuld. Lydia war krank, und sie benahm sich so schändlich mit Lydias Mann. Bei anderen hätte sie ein solches Benehmen verachtet und verurteilt.
Die Schlange war in ihr Paradies eingedrungen und hatte die Schuldgefühle mitgebracht, die Amber für den Rest ihres Lebens verfolgen würden.
Wie hatte sie das nur zulassen können? Für Jay war es etwas anderes. Er war ein Mann, dessen Frau ihre Rolle in der Ehe nicht erfüllen konnte, ein Mann, belastet von der Sorge um eine kranke Frau, der – wie alle Männer – auch seine Bedürfnisse hatte.
Es wäre ihr Pflicht und ihre Verantwortung gewesen, ihn aufzuhalten, ungeachtet ihrer eigenen Gefühle, ungeachtet dessen, wie stürmisch und quälend, wie überwältigend und stark diese waren. Doch das hatte sie nicht getan, und jetzt musste sie den Preis dafür bezahlen.
35
»… und wenn wir die Seide so über den Stuhl drapierten, Amber?«, fragte Cecil Beaton ein wenig verärgert und rief Amber damit zurück aus dem Alptraum ihrer schuldbewussten Überlegungen.
Cecil war gekommen, um die Fotografien für die erste Vogue -Anzeige des Ladens zu machen. Beruflich stand er so hoch im Kurs, dass sie ihn unmöglich hätte beauftragen können, wenn er kein Freund gewesen wäre, und jetzt vergeudete sie seine Zeit mit stillen Schuldgefühlen wegen der Sache mit Jay.
»Ja, ja, so ist es perfekt.«
Sie musste aufhören, über das Geschehene nachzudenken. Schließlich konnte alles Nachdenken dieser Welt das Unrecht, das sie begangen hatte, nicht wiedergutmachen. Heiß brannten ihr die Schuldgefühle auf der Seele. Cassandra mochte sie beide angeklagt haben, aber die Schuldige war sie. Sie hatte den Kuss verlängert, hatte sich mehr gewünscht …
Cassandra hatte vor Selbstzufriedenheit förmlich gestrahlt, weil sie sie erwischt hatte, und Amber befürchtete, dass sie weitertratschen würde, was sie gesehen hatte, auch wenn sie behauptet hatte, den Vorfall aus Sorge um die »liebe arme Lydia« nie wieder zu erwähnen. Ambers Ruf konnte ebenfalls Schaden nehmen, wenn Cassandra den Klatsch weitertrug, daran bestand kein Zweifel, doch Amber glaubte nicht, dass die weltläufigen Kreise, in denen sie und Robert sich bewegten, allzu viel Anstoß nehmen würden. Diskret geführte Affären waren schließlich durchaus salonfähig. Nein, wirklich Sorgen machte ihr, welche Wirkung die Geschichte auf Lydia haben könnte, die so labil war. Amber war die Vorstellung verhasst, einem unschuldigen Menschen Kummer zu bereiten. Würde Cassandra es wirklich für sich behalten, um Lydia zu schützen, oder hatte sie das nur behauptet, um sie und Jay in Sicherheit zu wiegen, während sie ihren öffentlichen Auftritt plante? Amber hätte sich nie träumen lassen, dass sie einmal in eine so beschämende Situation geraten könnte. Sie hatte ihre heiligsten moralischen Werte verraten.Wie zornig ihre Großmutter wäre, wenn sie davon erführe, sie würde sich von beiden Enkelkindern herb enttäuscht sehen. Amber würde dafür sorgen müssen, dass Blanche auf keinen Fall Jay verantwortlich machte.
Sie musste aufhören, darüber nachzugrübeln; der Schaden war angerichtet, sie konnte nichts mehr daran ändern. Cassandra hatte sie in der Hand, wie sehr ihr der Gedanke auch missfiel.
Der Laden war für Cecils Fotografien aufgeputzt worden. Im Vordergrund der Schaufenster stand ein Stuhl, der genau wie in Ambers Vorstellung im selben weichen Taubengrau gestrichen war wie die Wände. Darüber war lässig eine Bahn herrlichster schwarzer Seide drapiert, die – nach einem Entwurf ihres Vaters – mit goldenen Lorbeerkränzen bestickt war. Im Hintergrund standen zwei halbhohe korinthische Säulen, die eine von einer Büste mit Lorbeerkranz gekrönt, die andere von einem Kandelaber aus verwittertem Metall mit weißen Kerzen, durch den Amber Efeu geflochten hatte. Als Krönung saß inmitten der Seide – auf diese Idee war Cecil gekommen – ein pummeliges Baby mit rotgoldenem Haar. Es war das Kind einer Heimnäherin, die mit ein paar Raumtextilien vorbeigekommen war und nun besorgt beobachtete, wie ihr Sohn, ganz in Weiß gekleidet und mit einem Lorbeerkranz auf dem Kopf, auf dem Boden saß und zahnlos zu ihr auflächelte.Amber hoffte, dass er nicht auf die Seide sabberte, obwohl sie einräumen musste, dass das Ganze ein sehr attraktives und aufsehenerregendes Bild abgab.
Eigentlich sollte sie
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