Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
besäße Cecils Zuversicht, aber er war ja auch so ein begnadeter Selbstdarsteller, der seine Zuhörer und Bewunderer stets mitzureißen wusste.
36
Jay betrachtete den Brief, für den er den größten Teil des Vormittags gebraucht hatte.
»Du hast mich gebeten, dich über Roses Fortschritte auf dem Laufenden zu halten, und ich freue mich, dir berichten zu können, dass Dr. Brookes sagt, ihr Zustand stabilisiere sich immer weiter. Es interessiert dich wahrscheinlich auch, dass …«
Dass was? Dass ich dich vermisse und mich nach dir sehne? Dass es mir leidtut, dass du meinetwegen Cassandras Gehässigkeit ertragen musstest? Dass dich in den Armen zu halten mich nicht befriedigt hat, sondern eine unerträgliche Sehnsucht nach mehr in mir geweckt hat? Dass es für uns beide wirklich besser wäre, wir würden uns nicht mehr schreiben? Dass ich es nicht ertrage, diesen kostbaren Kontakt mit dir abzubrechen, obwohl ich damit dich betrüge und mein Ehegelöbnis, als würde ich dich nackt in den Armen halten?
Jay, der selten fluchte, stieß leise Verwünschungen aus, knüllte den Brief zusammen und warf ihn ins Feuer. In Augenblicken wie diesem vermisste er den alten Hund seines Großvaters am meisten. Einem Hund konnte man Dinge anvertrauen, die man einem Menschen niemals sagen konnte.
Cassandra weidete sich natürlich hämisch triumphierend daran, dass sie die Oberhand hatte. Sie würde diesen Vorteil gnadenlos ausnutzen, und sei es nur aus purer Gehässigkeit.
Eine scheußliche Situation, und die Tatsache, dass Lydias Gesundheitszustand es unbedingt gebot, dass sie nichts von alldem erfuhr, machte sie nicht leichter. Jay wusste, dass er Lydia niemals hätte heiraten sollen, doch er hatte es getan, und deshalb war es seine moralische Pflicht, sie zu beschützen. Sie war die Mutter seiner Kinder. Doch ihr emotionales Gleichgewicht stand auf der Kippe.
Manchmal stürzte es sie in die tiefste Depression, wenn eines der Mädchen nicht auf ihrem Schoß sitzen wollte, und doch weigerte sie sich bei anderer Gelegenheit rundheraus, irgendetwas mit den Mädchen zu tun zu haben, wandte das Gesicht von ihnen ab und tat, als wären sie Luft.
Genauso weinte sie und hielt ihm vor, sie würde ihn hassen und mit ihm verheiratet zu sein sei wie ein Gefängnis, nur um dann wieder zu beteuern, sie liebe ihn so sehr, dass sie ohne ihn nicht leben könne, und ihn anzuflehen, ihr zu sagen, dass er ihre Liebe erwiderte. Dann weinte sie untröstlich, bis er es ihr sagte.
Es war wahrscheinlich das Beste, wenn er Amber einfach schrieb, er werde Dr. Brookes bitten, ihr regelmäßig Bericht über Roses Fortschritte zu erstatten. Sie mussten auf Abstand gehen, um Ambers willen, um seiner Kinder willen und um seiner Frau willen. Aus den Augen, aus dem Sinn, hieß es doch, oder? Doch egal, wie lange er Amber nicht sah, Jay wusste, dass seine Gefühle für sie sich niemals ändern würden, sie würden allenfalls noch stärker werden. Doch diese Last musste er allein tragen. Er hatte nicht die Absicht, sie mit jemandem zu teilen, am wenigsten mit Amber. Ihr Glück war viel wichtiger als sein eigenes, und es machte ihn traurig, dass ihr in ihrer Ehe Liebe und Glück versagt blieben.
»Und liebst du mich wirklich?«
»Mein Schatz, natürlich liebe ich dich, vor allem in so einem Augenblick«, antwortete Cassandra leise ihrer Geliebten.
Die andere Frau wandte den Kopf und lächelte Cassandra an, reckte ihren nackten Körper in den wohligen Nachwehen ihres gemeinsamen Vergnügens. Ihre Haut, olivfarben und weich, roch, wie der ganze Raum, nach Sex.
Der Raum war Cassandras besonderes Spielzimmer, das sie sich zu Anfang ihrer Ehe mit John Fitton Legh eingerichtet hatte. Er lag ganz oben in dem gotischen Turm, der von einem Vorfahren im achtzehnten Jahrhundert an das Herrenhaus angebaut worden war. Die Dienstboten schworen, dass es in dem Turm spukte, und Cassandra hatte sie in diesem Glauben bestärkt, denn das konnte sie zu ihrem Vorteil nutzen.
Seltsam, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Der Raum hätte genauso gut für ihre Zwecke erbaut worden sein können. Das große Himmelbett war über und über mit Schnitzereien von maskierten Gestalten und gehörnten Fabelwesen verziert. Sie hatte es mit einem Stoff drapieren lassen, von dem sie von einer Freundin gehört hatte, die mit Violet Tefusis und Vita Sackville-West intim bekannt gewesen war. Das Goldmuster auf dem roten Hintergrund stellte die Legende der Attrappe dar, die Daedalus
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