Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
nahm. Im Sommer war der Gang von wohlduftenden Rosen überwuchert, doch jetzt lag der frische Geruch des Winters in der Abendluft.
Das Knirschen rascher Schritte auf einem zweiten gekiesten Weg, der ihren Weg kreuzte, ließ sie besorgt innehalten. Doch sie entspannte sich, als sie sah, dass es Jay war, der aus den Schatten ins Mondlicht trat.
Er war größer als Greg, und seine grauen Augen strahlten auf, wenn er belustigt war, doch Amber hatte auch schon erlebt, dass sie sich zur Farbe von nassem Schiefer verdunkelten. Jay war nur zwei Jahre älter als Greg, doch wirkte er um einiges reifer.
Die robuste Schlichtheit von Jays Hose und Tweedjacke stand ihm, obwohl Greg gewiss eine Augenbraue hochgezogen hätte, wenn er gesehen hätte, dass jemand so etwas am Abend trug. Doch irgendwie war Jay nicht der Typ, den Amber sich in einem modisch geschnittenen Smoking vorstellen konnte. Bei Jay spürte Amber stets eine gewisse stille Zielstrebigkeit und Verlässlichkeit, die sie auf eine Weise anzogen, die sie nicht recht verstand.
»Ich bin rausgegangen, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und … nachzudenken«, sagte sie, obwohl er nicht nach einer Erklärung gefragt hatte, warum sie im Garten war.
Er neigte den Kopf zu ihr, und als Amber zu ihm aufschaute, sah sie, dass seine Augen finster waren.
Ihre Stimme zitterte. »Jay, hast du dir je etwas so sehr gewünscht, dass es wehtut? Ich wollte Stoffdesignerin werden, um in unserer Seidenfabrik zu arbeiten. Das war immer mein Traum.«
»Wir alle haben Träume.« Seine Worte, still und doch irgendwie schwer, versetzten ihr einen Stich.
»Wovon träumst du?«, fragte sie neugierig. »Du wünschst dir vermutlich, du könntest den Titel deines Großvaters erben.«
»Nein, das wünsche ich mir nicht.« Er bückte sich, nahm eine Hand voll Erde aus dem Blumenbeet und ließ sie durch die Finger rieseln. »Das ist Leben, Amber, diese bescheidene Erde. Wir gehen darauf herum und achten nicht darauf und betrachten sie als selbstverständlich, wo sie doch in Wirklichkeit ein Wunder ist. Wenn wir sie mit Liebe und Fürsorge hegen, zahlt sie es uns zehnfach zurück. Mein Urgroßvater väterlicherseits war Bauer, und ich glaube, ich habe sein Naturell geerbt. Mit diesem Erbe bin ich weitaus glücklicher, als ich es mit dem De-Vries-Titel je sein könnte.«
»Ich wünschte, meine Großmutter wäre mehr wie deine. Das Einzige, was für sie zählt, ist ein Titel.«
Jay sah sie an. »Keine Angst, Amber, eines Tages wirst du deinem eigenen Weg folgen und deine eigenen Entscheidungen treffen können.«
Das Lächeln, das er ihr schenkte, erhellte sein ganzes Gesicht, verwandelte seine Augen in geschmolzenes Silber, und aus irgendeinem Grund begann Ambers Herz viel zu heftig und zu schnell zu schlagen. Sie hatte das Gefühl, vor etwas sehr Wichtigem zu stehen. Etwas, wonach sie die Hand ausstrecken wollte, vor dem sie gleichzeitig jedoch Angst hatte. Ohne recht zu wissen, was sie tat, machte sie einen Schritt auf ihn zu und dann rasch zwei Schritte von ihm weg, wobei sie halb stolperte, sodass Jay ihr, um sie zu stützen, die Hand auf den Arm legte. Seine Finger waren lang und seine Nägel sauber und gepflegt. Die Hand eines Gentlemans. Die Worte gingen ihr durch den Kopf. Sie schaute zu ihm auf und musterte sein Gesicht. Das schattige Halbdunkel ließ seine markanten Züge scharf hervortreten, zeichnete sie in Licht und Schatten, Ebenen und Vertiefungen. Er erwiderte ihren Blick ebenso gespannt, die Stille zwischen ihnen war aufgeladen und bezwingend.
Amber verspürte plötzlich das ungewöhnliche Verlangen, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren, die Form seines Kiefers nachzuzeichnen, den Bogen seines Wangenknochens. Sie atmete zu schnell, schockiert und erregt über ihre Gefühle.
»Jay …«
In dem Augenblick, da sie seinen Namen sprach, ließ er sie los und trat zurück.
»Du gehst besser rein. Es wird kühl, und deine Großmutter wird sich wundern, wo du bist.«
»Ja.«
Er wandte sich von ihr ab.
»Jay!«
Er blieb stehen und sah sie an.
»Ich wollte dir nur noch sagen, dass ich hoffe, dass sich deine Träume erfüllen.«
Das hoffte er auch – um ihretwillen -, doch er befürchtete, dass das Leben nicht so freundlich war.
5
Januar 1930
Amber und ihre Großmutter kamen spätnachmittags am Cadogan Place an. Die Bäume waren von Frost und Eisnebel silbermatt überhaucht, die kahlen Äste flehend ausgestreckt, wie die Hände der bettelnden Kinder,
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