Der Glanz des Südsterns: Roman (German Edition)
sahen ihn manchmal, aber sie erkannten den angesehenen Arzt, der eher aussah wie ein heruntergekommener, ausgezehrter Landstreicher, kaum wieder.
Seinen Patienten konnte Lyle nicht mehr in die Augen sehen, für sie war sein Anblick mehr als besorgniserregend. Freunde und Verwandte versuchten ihm seine Schuldgefühle zu nehmen, indem sie ihm wiederholt erklärten, dass er den Unfall seines Sohnes nicht hätte verhindern können. Doch Lyles Gefühle schwankten zwischen Wut, Trauer, Kummer und unerträglichem Schmerz. Seine einzige Quelle der Lebensfreude war nicht mehr. Er wollte nicht mehr leben, aber er hatte auch nicht den Mut, aus dem Leben zu scheiden.
Irgendwann kam der Tag, an dem Millies Schmerz in eine andere Phase trat. Gegen Bonnies Rat bestand sie darauf, wieder zu Hause einzuziehen, denn sie glaubte, Lyle zu brauchen. Aber nichts hatte sie auf Lyles Anblick vorbereitet. Sie versuchte, mit ihm zu reden, doch er hatte sich völlig zurückgezogen und ihr nichts zu sagen. Lyle ignorierte jeden Versuch Millies, ihm zu helfen. Als sie nicht mehr weiterwusste, schlug sie vor, den Priester der Familie um ein Gespräch zu bitten, aber Lyle weigerte sich beharrlich auch dagegen. Millie wurde schließlich wütend, denn sie sah seine Haltung als Zurückweisung ihrer Person.
Tom und Mina MacAllister wollten einschreiten, aber Lyle lehnte auch die Hilfe seiner Eltern ab. Dann verschwand er für Wochen. Alle waren krank vor Sorge. Millie weigerte sich zu glauben, dass er sie tatsächlich verlassen hatte, und so ließ sie die Leute nach ihm suchen, darunter auch die örtliche Polizei. Eines Tages tauchte Lyle wieder auf. Er war ausgezehrter denn je und emotional genauso distanziert wie zuvor, aber er sah gepflegter aus. Er gab keinerlei Erklärungen für seine Abwesenheit ab und wollte niemandem sagen, wo er gewesen war. Lyle bestand jedoch darauf, wieder arbeiten gehen zu können.
Im Laufe der nächsten Wochen spielte sich im Leben der MacAllisters eine gewisse Routine ein. Millie und Lyle redeten zwar nicht wieder miteinander, Lyle kehrte jedoch in seine Praxis zurück. Nach und nach nahm er zu. Er kümmerte sich um seine Patienten, aber emotional blieb er distanziert, vor allem Millie gegenüber.
Das Schweigen im Haus war eine Qual für Millie. Sie versuchte immer wieder, Lyle in ein Gespräch zu ziehen, aber seine Antworten waren einsilbig, und über Jamie wollte er gar nicht reden. Millie war enttäuscht, dann wandelte sich die Enttäuschung in Wut. Wenn sie vor lauter Verzweiflung einen Wutausbruch bekam, verließ Lyle einfach das Haus und ging spazieren, was Millie nur noch wütender machte. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie ihm die Schuld an Jamies Tod gegeben hatte, aber auch darauf reagierte Lyle nicht. Sie versuchte, über den Schmerz zu sprechen, den der Verlust ihres Sohnes bei ihr ausgelöst hatte, versuchte, sich mehr und mehr zu öffnen, doch Lyle schwieg beharrlich. Schließlich fragte Millie ihn, ob er die Scheidung wolle.
»Willst du die Scheidung?«, war seine Antwort.
»Nein, Lyle. Ich will meinen Mann zurück«, erwiderte Millie.
Lyle schwieg. Dieses Mal verließ Millie das Haus.
In den kommenden Monaten begann Millie, mit ihren Eltern auszugehen. Sie spielte Bingo mit ihrer Mutter oder sah ihrem Vater zu, wenn er Darts spielte. Millie hatte nie viel Alkohol getrunken, aber das änderte sich jetzt. Sie stellte fest, dass es ihr besser ging, wenn sie ein paar Gläser Whisky trank. Sie und Lyle sahen sich kaum noch. Er arbeitete viel, und wenn er einmal ein paar Stunden freihatte, ging er spazieren, allein. Dass Lyle darauf bestand, in Jamies Bett zu schlafen, empfand Millie als eine weitere Zurückweisung, als ein Zeichen dafür, dass sie ihren Mann nie zurückbekommen würde.
Lyle fiel es kaum auf, dass Millie immer später am Abend nach Hause kam. Auch dass sie getrunken hatte, fiel ihm nicht auf, bis es so schlimm wurde, dass sie nachts immer wieder stolperte und fiel und sich blaue Flecken oder sogar schlimmere Verletzungen zuzog. Lyle begann, sich Sorgen zu machen. Er begriff, dass das Millies Art war, mit Jamies Tod umzugehen, aber er wusste, dass sie sich auf einen gefährlichen Weg begeben hatte.
»Du solltest nicht so viel trinken«, sagte er eines Morgens, als sie am Küchentisch saß und ihren schmerzenden Kopf mit der Hand stützte. Es waren die ersten Worte, die er seit einer Woche an sie richtete, und es klang mehr wie Kritik, nicht wie Sorge.
Millie wurde wütend.
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