Der Glanz des Südsterns: Roman (German Edition)
reingehen.«
Millie, die sich wunderte, mit wem Lyle draußen redete, kam an die Tür gelaufen. »Wo ist Jamie?«, fragte sie und geriet gleich in Panik, als sie Fred sah. »Wo ist mein Sohn?«
Lyle ging durch das Tor und packte Andy bei den Schultern. »Wo ist Jamie?«, fragte er besorgt. »Ist er verletzt? Muss ich ins Krankenhaus?« Andy antwortete nicht. »Verdammt. Mach den Mund auf, Junge«, schimpfte Lyle entnervt.
Jetzt begannen auch Andy und Tommy zu schluchzen.
Fred legte Lyle eine Hand auf die Schulter. »Können wir hineingehen, Lyle, bitte? «
Lyle schwenkte herum. »Nein, ich will wissen, wo Jamie ist. Ich habe ein Recht darauf, das zu erfahren. Sagt mir das jetzt endlich jemand?«, verlangte er wütend.
»Er ist vom Rad gefallen, und … und ein Lieferwagen … hat ihn überfahren«, sagte Tommy mit tränenerstickter Stimme. Das Bild von Jamies blutüberströmten, zerschmetterten Beinen, die unter dem Lieferwagen hervorgeragt hatten, würde er bis ans Ende seines Lebens nicht mehr aus dem Kopf bekommen.
»Was?«, fragte Lyle, und es war, als wollte ihm das Herz stehen bleiben.
Unzählige Male hatte er Leute behandelt, die unter Schock standen, aber er hatte einen Schock noch nie am eigenen Leib erlebt. Die Welle schlug über ihm zusammen wie ein Guss eiskaltes Wasser. Seine Arme und Beine kamen ihm zu schwer vor, als dass er sie hätte bewegen können, und es war, als sei die Zeit stehen geblieben, als Tommys Worte in seinem Kopf widerhallten. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, und er taumelte gegen die Gartenmauer.
»Wo ist er? Wo ist Jamie?«, kreischte Millie aus dem Vorgarten. Als sie Freds Gesichtsausdruck sah, wusste sie, dass ihr schlimmster Albtraum wahr geworden war. »Er ist doch nicht … sagen Sie mir, dass mit meinem Sohn wieder alles gut wird«, schrie sie und sank auf die Knie, das Gesicht verzerrt vor Schmerz.
»Ich wünschte, das könnte ich, Mrs. MacAllister«, sagte Fred und ließ den Kopf sinken.
Lyle starrte die Jungen an. Er wollte fragen, ob Jamie überlebt hatte, ob er nur schwer verletzt war, aber tief in seinem Innern kannte er die Antwort bereits.
»Vielleicht kann ich ja etwas tun«, sagte Lyle. »Wo ist Jamie? Ich werde ihm helfen.« Die Jungen antworteten nicht. »Wo ist er?«, brüllte Lyle.
»Es gibt nichts, was Sie tun können«, sagte Fred. »Ihr Sohn wurde ins Leichenschauhaus des Hospitals gebracht. Es tut mir sehr leid. Wirklich sehr, sehr leid.«
»Das ist alles deine Schuld, Lyle«, schrie Millie. »Du hast ihm dieses verfluchte Fahrrad geschenkt.« Sie warf sich auf den Boden und schluchzte. »Nein, nein«, schrie sie. »Jamie! Ich will meinen Jamie.«
Lyle sah seine Frau an, aber er fühlte sich wie gelähmt. Er war nicht in der Lage, zu ihr zu gehen, denn er wusste, dass sie Recht hatte. Er hatte seinem Sohn das Fahrrad gekauft. Und jetzt hatte er ihn verloren.
Ohne nachzudenken, machte er sich auf den Weg die Straße hinunter in Richtung Queensbury Street. Er wusste, da waren die Jungen entlanggefahren, als sie vom Park zurückkamen. Lyle kam an Leuten vorbei, die ihn ansprachen, aber er hörte kein einziges Wort. Vor seinem geistigen Auge sah er nur Jamies strahlendes Lächeln, als er sein rotes Fahrrad bekommen hatte. So glücklich hatte er ihn noch nie zuvor gesehen.
14
In den Wochen nach Jamies Beerdigung sprachen seine Eltern kaum ein Wort miteinander. Millie weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht und ließ ihre Verzweiflung und Wut an Lyle aus, was sein eigenes Leid nur noch vergrößerte – wenn das überhaupt möglich war. Mehr als einmal wurde Millie so hysterisch, dass Tom MacAllister ihr ein Beruhigungsmittel geben musste. Lyles Anblick allein brachte sie schon in Rage. Sie ertrug es nicht, mit ihrem Mann im selben Zimmer zu sein, geschweige denn ein Gespräch mit ihm zu führen. Schließlich wurde es so schlimm, dass Bonnie Millie zu sich nach Hause holte.
Lyle war zerfressen von Schuld – eine Last, die beinahe zu schwer war, als dass er sie hätte tragen können. Das leere Haus brachte ihm seinen Verlust nur noch mehr zu Bewusstsein, also verbrachte er seine Tage mit Spaziergängen über einsame Wege, allein mit seinen quälenden Gedanken. So verging Stunde um Stunde, und oft kehrte er erst in die Stadt zurück, wenn es schon dunkel war. Er aß kaum genug, um bei Kräften zu bleiben, und weil er nachts auch nicht zur Ruhe kam, streifte er durch die dunklen Straßen von Dumfries. Der Milchmann und der Bäcker
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