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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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können, schließlich behielt ich sie und legte den Ellbogen darüber.
    Â»Mein Onkel …«, begann ich. Ich sprach schnell, mit gesenktem Blick, ich traute mich nicht, ihn zu heben aus Angst, ich könnte etwas in seinem Gesicht entdecken, das mich durcheinanderbringen würde. Als ich fertig war, packte ich mit fahrigen Händen die Rolle und schob sie ihm über die anderen Papiere hinweg zu. Er ließ sie liegen, ohne sie anzurühren, und lehnte sich weiter im Sessel zurück. Das Zucken des Mundwinkels diente offenbar der nostalgischen Selbstvergewisserung, wenn ihn jemand beobachtete.
    Â»Ja, ich erinnere mich an Ihren Onkel, er war mein Lehrer, in der Tat …«, wiederholte er.
    Etwas wie ein Schrecken durchfuhr mich.
    Â»Er war zweifellos ein besonderer Mensch … Vorwerfen könnte man ihm höchstens, dass er sich selbst behindert hat, weil er sich die Kraft nicht zutraute … Ja, seine Grenzen hat er sich irgendwie selbst gesetzt, freiwillig …«
    Ich atmete auf, erleichtert und enttäuscht. Das Bild Onkel Ions hatte bei mir auf der Kippe gestanden, es hätte gereicht, dass Arcan anders über ihn redete, und ich hätte meine Meinung über ihn sofort geändert. Verbittert spürte ich, wie unsicher und wankelmütig ich war. Jetzt sprach er, mit Pausen, wobei man ihm bei der Verfertigung der Gedanken zusehen konnte, hie und da erkannte ich die formelreiche Sprache seiner Fachartikel. Als fände er nicht zu seinem gewöhnlichen Tonfall zurück, sagte ich mir später, als es mir gelang, meine ersten Eindrücke zu formulieren. Vielleicht spürte er auch selbst etwas, denn er suchte gleich einen vertraulicheren Ton.
    Da erst schaute ich überrascht auf. Sein Lachen klang verkrampft, allerdings in einer sportlich jugendlichen Lautstärke. »Wir werden richtiggehend bombardiert mit solchen Angeboten, und die Zeitschrift des Instituts bringt kaum unsere eigenen Arbeiten unter …«
    Er überflog die vergilbten Seiten, die ich gebracht hatte, wobei er seine starken knochigen Finger gespreizt darauf abstützte. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Leute so arbeiten, viele Jahre lang ihre Energie an bizarre Projekte verschwenden, weil sie nicht wissen, wie sie sie sonst einsetzen sollen … Mit wie vielen habe allein ich schon gesprochen, überwiegend Rentner, die schon zwanzig Jahre beharrlich an einem Gegenstand gearbeitet haben. Sie sind besessen von Einzelheiten und nicht mehr in der Lage, sie in irgendeine Ordnung zu bringen … Es ist die reinste Sisyphosarbeit, mit ihnen zurande zu kommen, und ich gehe ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg. Denn sehen Sie, alle diese Hoffnungen auf eine späte Veröffentlichung – schon eher eine verspätete, denn die letzten zehn, fünfzehn Jahre fallen ja auch ins Gewicht – sind komisch und tragisch zugleich …«
    Anfangs hatte ich ihm mit zustimmendem Nicken zugehört. Während ich ihn bewundernd und ergeben anlächelte, staunte ich, dass ich dazu in der Lage war, und war gleichermaßen verärgert und zufrieden mit mir. Nach und nach aber horchte ich genauer hin und war mir sicher, aus dem Wortschwall eine Ablehnung herauszuhören. Ich nickte weiter, aber meine angespannten Mundwinkel bebten. Die Sonne strahlte durchs Fenster, und über der Allee hatte die Hitze weißen Dunst gesponnen. Ich fühlte mich plötzlich ausgelaugt.
    Â»Allerdings bin ich überzeugt, dass das bei Ihrem Onkel nicht der Fall ist …« Ich fuhr auf, seine Stimme hatte sich verändert, und sein Blick flackerte für einen Augenblick, als er mich ansah. Allerdings igelte er sich so schnell wieder ein, dass ich mich fragte, ob ich mich nicht getäuscht hatte. »Ich werde sogar eine Ausnahme machen«, lachte er, »und das alles lesen, bis Sie, sagen wir, in einer Woche, wiederkommen, damit wir gemeinsam sehen, was wir damit machen können …«
    Er erhob sich, um mich hinauszugeleiten, und schob die Stühle krachend an den Tisch. Die ganze Zeit über hatte er eine beherrschte Nervosität ausgestrahlt, die mir als Zeichen von Konzentration oder Kraft erschien.
    Â»Mein Onkel erzählte von Ihnen, damals, als Sie sein Schüler waren …«, flüsterte ich. »Und manchmal habe ich Sie auch in der Stadt gesehen …«
    Er blieb stehen und hob die Brauen. Diesen

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