Der goldene Greif
im Bereich einer heiligen Stätte. Wie kannst du erwarten, daß minderer Zauber in der Nähe des mächtigen Gottes Mynthar seine Kraft behält? Doch nun verlange ich deine Entscheidung: Willst du gehen und nie mehr wiede r kehren, oder willst du vor das Orakel treten und aus seinem Mund Glück oder Unglück, Sieg oder Niederlage entgege n nehmen, wie auch immer der Gott es besti m men mag?“
„Ich habe den weiten, beschwerlichen Weg hierher nicht gemacht, um nun unve r richteter Dinge wieder umzukehren“, sagte Raigo ungehalten. „Da die Prüfungen durch euch unu m gänglich sind, um mein Ziel zu erreichen - wohlan, so prüft mich!“
„So sei es!“ sagte der Alte. „Wisse aber vorher noch eines: Du kannst die Prüfungen umg e hen, die schon so manchen um den Verstand gebracht haben. Kannst du dem Gott ein wü r diges Opfer bieten, so mußt du dich nicht dem Ritual unterwerfen, wenn es Mynthar gefällt, deine Gabe anzunehmen.“
„Was sollte ich dem Gott bieten können, das in seinen Augen würdig wäre?“ fragte Raigo erstaunt. „Meinen ganzen Besitz ließ ich zurück, als ich auszog, um die Heimat wiederzus e hen. Und das Erbe, das ich verlor, hoffe ich erst mit der Hilfe des Gottes zurückzugewinnen. Nicht mehr nenne ich mein Eigen als das, was ich bei mir trage.“
„Nichts von dem, was du bei dir trugst, ist wert, dem Höchsten der Götter als Opfer zu di e nen“, antwortete der Greis, „nicht einmal dein berühmtes Schwert, denn nut z loser Tand ist solche Waffe dem mächtigen Mynthar. Aber nennst du nicht ein Roß dein Eigen, das unter den Pferden das ist, was er unter den Göttern ist? Führe dieses Tier vor seinen Altar und sende mit eigener Hand die Seele dieses edlen G e schöpfes zu seinem Thron, so wird dir der Spruch des Orakels zuteilwerden . Nicht umsonst nennt man Mynthar auch den Herrn der Rösser. Dieses Opfer wird sein Herz erfreuen, und das Orakel wird dir günstig sein.“
„Halt, sprich nicht weiter!“ unterbrach Raigo den Alten zornig. „Soll ich mit dem L e ben eines Freundes erkaufen, daß der Gott mir gnädig ist? Soll ich das Blut dessen vergießen, der sein eigenes gab, um mir das Leben zu retten - aus Angst vor euren Prüfungen? Nein, ve r langt von mir, was ihr wollt - mein Leben oder meinen Verstand - aber nicht, daß ich feige um meines Vorteils willen eines meiner treuen Tiere opfere!“
Heiß war das Blut in Raigos Wangen gestiegen, und mit geballten Fäusten sah er zu dem Greis auf, der ein solches Ansinnen an ihn zu stellen gewagt hatte
Ein feines Lächeln lag in den lebhaften Augen des alten Mannes, als er nun beschwicht i gend die Hand hob.
„Ruhig, ruhig, junger Heißsporn!“ besänftigte er Raigo. „Niemand würde in Wahrheit von dir verlangt haben, das Blut dieses edlen Rosses zu vergießen. Ja, der Gott se l ber würde jeden strafen, der dies Tier tötete. Hast du denn nicht gesehen, daß dein Pferd das Zeichen des Gottes trägt, die weiße Strähne in seiner nachtschwarzen Mähne? Nur alle hundert Jahre wird ein solches Pferd geboren. Stets ist es ein Rapphengst und ausersehen, den Ruhm Mynthars zu mehren. Erweise dich seiner würdig, mein Sohn, und gehe tapfer in die zweite Prüfung, denn die erste hast du soeben bestanden. Hättest du dem Opfer zugestimmt, um den Prüfungen zu en t gehen, wäre nicht das Blut des Tieres sondern das deinige auf dem Altar geflossen, um den Makel zu tilgen, daß ein Feigling auf dem Rücken dieses Rosses saß.
Doch nun solltest du dich ausruhen, damit du gestärkt bist für die zweite Prüfung. Erst wenn die Nacht wieder hereinbricht, halte dich bereit! Bis dahin wird man dir einen Raum anwe i sen, wo du ungestört bist.“
Raigo war so verblüfft, daß er den Alten sprachlos anstarrte. Nur langsam begann er zu b e greifen. Ohne daß er es bemerkt hatte, war er bereits der ersten Prüfung unterzogen wo r den. Doch in dieser Aufgabe hatte für ihn keine Gefahr gelegen. Niemals hätte er Ahath g e opfert! Erst jetzt kam ihm zu Bewußtsein, was der alte Mann von dem Pferd gesagt hatte. Zwar hatte auch Raigo natürlich die weiße Strä h ne in Ahaths Mähne gesehen, doch er hatte nicht gewußt, daß dies das Zeichen des Gottes war. War Tamantes sich darüber im Klaren gewesen, was für ein Pferd er Raigo da geschenkt hatte?
Wortlos und immer noch in Gedanken versunken folgte er einem der Krieger, der ihn aus der großen Halle in einen Gang geleitete. Raigo war so abwesend, daß er
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