Der goldene Greif
darum jetzt, denn wir haben noch ein Stück Weg vor uns und dürfen uns nicht ve r späten.
Er stand auf, und Raigo folgte ihm mit bangem Herzen. In der großen Halle schlo s sen sich ihnen einige Krieger an. Drei von ihnen schritten voran, die Gänge mit F a ckeln erleuchtend. Die anderen beschlossen den Zug, so daß Raigo und Huvran in der Mitte gingen. Bald ha t ten sie den Ausgang erreicht, und man folgte ein Stück dem Bergpfad, auf dem Raigo in der vergangenen Nacht hergebracht worden war. Doch bald bogen die Führer ab und drangen in eine enge Spalte ein, die zwischen zwei gewaltigen Felswänden klaffte. Nach einigen Metern erweiterte sich der Spalt zu einem geräumigen Felskessel. Dieser war so groß, daß das Licht der Fackeln den gegenüberliegenden Rand nicht erreichte. Erst als man den Kessel durchquerte, erkannte Raigo in dem vor ihm liegenden Felsen den schmalen Zugang zu einer weiteren Höhle. Vor dem Eingang blieben die Führer halten und traten schweigend beiseite.
Huvran deutete auf die Felsöffnung und sagte zu Raigo:
„Dies ist der Eingang zur „Grotte der Stimmen“. Dort mußt du hineingehen. Durc h quere die kleine Eingangshöhle und folge dem Gang, der auf ihrer Rückseite we i terführt. Nach einiger Zeit wirst du in eine weitere Höhle kommen, die jedoch viel größer ist. Laß’ dich in der Mitte auf dem Steinsitz nieder, den du dort finden wirst. Dann lösche die Fackel und warte ab, was geschieht. Doch du mußt die Fackel u n bedingt ausmachen, denn bleibt sie brennen, wirst du den Zorn der Stimmen auf dich ziehen und kehrst nicht lebend aus der Grotte zurück! Nach einiger Zeit wirst du die Stimmen hören. Vieles werden sie dir sagen. Doch sei gewarnt: Es muß nicht die Wahrheit sein, was sie dir verkünden! Niemand kann sagen, ob das, wovon sie künden, tatsächlich geschieht, oder ob sie lügen. Andere vor dir mußten erfahren, daß vieles Wirklichkeit war, doch genau so viel war nur ihrer Bosheit entsprungen, denn sie li e ben es, die Menschen zu quälen. So manchen hat ihre Kunde um den Verstand gebracht, denn selten nur sprechen sie von Gutem. Darum höre meinen Rat: Wenn du nicht enden willst wie jene, verliere nie dein Ziel aus den Augen! Was die Stimmen auch sagen mögen, denke stets daran, daß es genauso gut Lüge wie Wahrheit sein kann! Du mußt dich gedu l den, bis du das Orakel gehört hast, ehe du nachprüfen gehst, ob ihre Kunde stimmt. Nur wenn du stark genug bist, der Versuchung zu widerstehen, sofort aufzubrechen und nac h zusehen, hast du deine Pr ü fung bestanden. Und nun geh’, und die Götter seien mit dir!“
Damit reichte er Raigo eine entzündete Fackel. Raigo ergriff die Fackel mit der Li n ken, doch seine Rechte faßte die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. „Sag mir, Huvran, wer oder was sind diese Stimmen?“
„Niemand weiß es“, antwortete Huvran. „Manche sagen, es seien Dämonen, welche die Macht Mynthars dort gefangen hält. Andere wieder vermuten, daß es die Geister der Verl o renen sind, die das Orakel nicht erreichten oder die von eigener Hand den Tod fanden, als ihnen das Orakel nur Unheil verkündete. Man sagt, sie mißgönnen auch jedem anderen den Erfolg und versuchen daher, ihn zu verderben. Doch wenn sie auch nur körperlose Stimmen sind, so haben sie doch die Macht, dich zu töten. Aber du mußt nun gehen, denn nur um diese Stunde kannst du sie hören.“
Raigo seufzte beklommen. Dann drückte er kurz die Hand des Alten und betrat die Höhle. Er fand den Gang und folgte ihm tiefer in den Berg hinein. Bald hatte er das Ende des Ganges erreicht und stand in einer gewaltigen Höhle.
Wuchtige, natürliche Säulen wuchsen aus dem mit Felsbrocken übersäten Boden. Nischen, Winkel und Risse zogen sich an den Wänden entlang, die das Licht der Fackel in gehei m nisvolle, unergründliche Schatten tauchte. Kalt und klamm war die Luft, und Raigo fröstelte. Während er weiterging, sprangen die tiefen Schatten Ra i go an wie wilde Tiere, die hinter jedem Vorsprung, jeder Säule lauerten. Raigos Mut sank. Er fühlte sich unbehaglich. Es schien ihm, als beobachteten ihn tausend Augen aus jedem Loch, jedem Riß, schauten hi n ter jedem Steinbrocken hervor. Zögernd schritt er auf eine grob aus einem Steinblock g e hauene Bank zu, die auf e i nem freigeräumten Platz in der Mitte der Höhle stand.
Bevor er sich niederließ, schaute er sich mit wachsender Furcht um. Doch so sehr er auch seine Augen anstrengte, um die
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