Der Goldene Kompass
öffnete sie die Außentür der Kajüttreppe und trat hinaus auf das Deck. Sofort entdeckte sie die seltsame Erscheinung am Himmel. Zuerst dachte sie, es seien Wolken, die von heftigen Böen aufgerissen und auseinandergeweht wurden, aber Pantalaimon flüsterte: »Die Aurora!«
Sie mußte sich an der Reling festhalten, um nicht vor Staunen umzufallen.
Das Schauspiel erstreckte sich über den gesamten nördlichen Himmel in seiner unermeßlichen Weite. Gewaltige Vorhänge aus zartem Licht fielen wie vom Himmel herab und flimmerten in der Luft. Blaßgrün und rosarot schimmernd, durchscheinend wie hauchfeines Gewebe und mit einem Saum von tiefem, wie Höllenfeuer leuchtendem Karmesinrot, schwebten sie gelöster und anmutiger als jeder Tänzer durch den Raum. Lyra meinte sogar, sie zu hören: ein Raunen und Sausen aus unendlicher Ferne. Beim Anblick dieser vergänglichen Zartheit überkam sie ein ähnlich unergründliches Gefühl, wie sie es in der Nähe des Bären empfunden hatte. Sie war zutiefst ergriffen von dieser fast heiligen Schönheit; Tränen brannten in ihren Augen und brachen das Licht zu regenbogenfarbigen Splittern. Bald merkte sie, daß sie in eine ähnliche Trance fiel wie beim Lesen des Alethiometers. Vielleicht ließ ja das, was die Nadel des Alethiometers in Schwingungen versetzte, auch die Aurora leuchten, dachte sie. Am Ende war es Staub. Aber ihr war nicht bewußt, was sie dachte, und kurz darauf hatte sie es vergessen und sollte sich erst viel später wieder daran erinnern.
Und während sie noch staunte, entstand hinter den durchscheinenden farbigen Schleiern und Strömen das Bild einer Stadt mit Türmen und Kuppeln, goldenen Tempeln und Säulengängen, breiten Boulevards und sonnenbeschienenen Parks. Lyra wurde von einem Schwindelgefühl gepackt, als blicke sie nicht nach oben, sondern nach unten, über einen unüberwindbaren Abgrund, so breit, als trenne ein ganzes Universum sie von der Stadt auf der anderen Seite.
Aber bewegte sich da nicht etwas in der Luft? Lyra versuchte, ihre Augen darauf scharfzustellen, doch wurde ihr dabei ganz schwindlig, denn das kleine Ding, das sich bewegte, gehörte weder zur Aurora noch zu der anderen Welt dahinter. Es flog am Himmel über den Dächern der Stadt. Als sie es endlich deutlich sah, erwachte sie aus ihrer Trance. Die Himmelsstadt war verschwunden.
Das fliegende Etwas kam näher und umkreiste das Schiff mit ausgebreiteten Flügeln. Dann glitt es herab, landete unter heftigem Flattern seiner mächtigen Schwingen und kam ein paar Meter von Lyra entfernt auf dem Holzdeck zum Stehen. Im Licht der Aurora erblickte sie einen großen Vogel, eine schöne graue Gans, deren Kopf von schneeweißen leuchtenden Federn gekrönt war. Und doch war es kein Vogel, sondern ein Dæmon, obwohl außer Lyra niemand zu sehen war. Vor lauter Angst wurde ihr fast schlecht.
»Wo ist Farder Coram?« fragte der Vogel.
Da erkannte Lyra, daß die Gans nur der Dæmon von Serafina Pekkala sein konnte, der Stammeskönigin und Hexenfreundin von Farder Coram.
»Ich… er… ich rufe ihn…«, stammelte sie.
Sie drehte sich um, sprang die Kajüttreppe zur Kabine von Farder Coram hinunter, öffnete die Tür und rief in die Dunkelheit hinein: »Farder Coram! Der Dæmon der Hexe ist da! Er wartet auf Deck! Er ist ganz allein hier — ich habe ihn am Himmel kommen sehen…«
»Bitte ihn, auf dem Achterdeck zu warten, Kind«, sagte der alte Mann.
Die Gans schritt zum Heck und sah sich dort um; sie war eine anmutige und zugleich wilde Erscheinung. Lyra war fasziniert und befremdet, es war, als hätte sie Besuch von einem Geist bekommen.
Dann kam, eingemummt in Wintersachen, Farder Coram herauf, dicht gefolgt von John Faa. Ehrfürchtig verneigten sich die beiden alten Männer vor dem Besucher, und auch ihre Dæmonen begrüßten ihn.
»Seien Sie gegrüßt, Kaisa«, sagte Farder Coram. »Ich bin glücklich und stolz, Sie wiederzusehen. Möchten Sie hereinkommen oder lieber draußen bleiben?«
»Danke, Farder Coram, ich bleibe lieber draußen. Ist Ihnen auch nicht kalt?«
Hexen und ihre Dæmonen frieren selbst nie, aber sie wissen, daß Menschen es tun.
Farder Coram versicherte, sie seien warm genug angezogen. Dann fragte er: »Wie geht es Serafina Pekkala?«
»Sie läßt Sie grüßen, Farder Coram. Es geht ihr gut, und sie ist gesund. Wer sind die beiden hier?«
Farder Coram stellte ihm John Faa und Lyra vor. Der Gänsedæmon blickte Lyra aufmerksam an.
»Von diesem Kind habe ich
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