Der goldene Kuß
ihn berührt hatte.
Im Nebenzimmer, vor einer Nische, die genauso groß war wie der Spiegel, saß Dr. Rathberg auf einem Schemel. Er genoß das große Geheimnis seines Jagdhauses: den durchsichtigen Spiegel. Während im Nebenzimmer sich die Nackten unbefangen betrachteten, war dieser Spiegel von dieser Seite durchsichtig wie eine Fensterscheibe.
Wie oft hatte er hier gesessen, wenn sich seine Jagdgesellschaft umzog. Zuerst die Herren, das war uninteressant. Dann die Damen. Die Gräfin Tonnitz. Die Frau Generaldirektor Plümm. Die Konsulin Hardmann. Und dann die Töchter! Manchmal war es schamlos, wie sie sich unbeobachtet vor dem Spiegel benahmen … aber Dr. Rathberg hatte in der Nische gesessen, mit brennenden Augen und zuckenden Lippen. Ein Faun, der die Nymphen beobachtet.
Jetzt hockte er wieder da und starrte auf den entblößten Körper Vera Hartungs. Und während er sich vorbeugte, die Augen fast an das Glas legte, um jede Einzelheit dieses sich ihm frei bietenden Körpers in sich aufzunehmen, wußte er, daß dieser Tag nicht mit dem Sonnenuntergang enden würde, sondern mit dem Morgenrot.
Über sein Gesicht rann Schweiß, und seine Hände zuckten auf den Knien. In diesem Augenblick war er wie ein Wahnsinniger.
*
Der Abend wurde anders, als es sich Dr. Rathberg gedacht hatte. Was diese Jagdhütte schon an intimen Gesellschaften gesehen hatte, sollte sich heute nicht fortsetzen. Manchmal, wenn er eine sentimentale Stunde hatte, saß Rathberg allein in dem großen Raum und blickte stumm durch dieses Haus. Dann überfielen ihn die Erinnerungen, und dann hatte er plötzlich Angst vor dem Sterben und seinen fünfundfünfzig Jahren.
Er war nicht krank, er ließ sich ständig untersuchen, machte EKG-Kontrollen, ließ sich einmal im Jahr durchleuchten, unterwarf sich Zuckertests und erholte sich sechs Wochen lang in Ischia oder in Davos. Sein Arzt sagte einmal zu ihm: »Herr Intendant, Ihre Gesundheit ist nur erklärbar durch die Ruhe eines Beamtenlebens.« Trotzdem geriet Dr. Rathberg in eine innere Panik, wenn er sich vorrechnete, daß er zwei Drittel seines Lebens schon hinter sich hatte.
In diesem Raum hatte seine Liebe zu der Sängerin Lore Althein begonnen. Zwei Jahre blieb es verborgen. Zwei Jahre, in denen sie zu einem gefeierten Opernstar wurde und als Krönung ihrer kometenhaften Laufbahn einen Vertrag nach New York, an die berühmte Metropolitan Opera, erhielt. Vier Tage vor ihrem Abflug verunglückte sie; ihr Wagen kam auf der Autobahn ins Schleudern und prallte gegen die Leitplanke des Mittelstreifens. Aus dem Gewirr von Blech und verbogenem Stahl zog man Lore Althein heraus; ein blutiges Bündel, das kaum noch als Mensch zu erkennen war.
Luisa Rameau … Dort, am Kamin saß sie, ein kleines, superblondes Aas, mit langen Beinen und Augen wie eine Schlafpuppe. Sie hatte auf der Erde gesessen und später vor dem Kamin gelegen, auf dem Bärenfell, das Rathberg bei einem Jagdausflug in die Karpaten erbeutet hatte. Der Widerschein des Kaminfeuers zuckte über ihre Haare und den Körper, der weiß im ungewissen Licht glänzte, denn Luisa Rameau hatte sich ausgezogen, stumm, ungeniert, ohne Zögern, so wie man sich eben auszieht, wenn man allein ist. Und Dr. Rathberg hatte vor ihr gesessen, sie angestarrt und sich unendlich jung gefühlt.
Die vielen anderen in diesem Raum. Die stummen Zeugen seines zweiten Lebens. Diese hölzernen Wände mußten getränkt sein vom Duft des Parfüms, von den zwitschernden Stimmen verliebter Mädchen, von Lügen und gespielter Leidenschaft, von Versprechungen und dramatischen Abschieden.
Dr. Rathberg stand wieder an der riesigen Bar und mixte einen neuen Cocktail, als Vera Hartung aus dem Umkleidezimmer kam. Sie trug ein buntes, enges Dirndlkleid. Die Verschnürungen des Mieders hoben ihre Brüste hervor, die Bluse verbarg kaum deren Ansatz.
Dr. Rathberg stellte den Mixbecher hart auf die Ablage. Es klang wie ein Faustschlag.
Warum hat sie das genommen, dachte er. Lore Althein trug es zuletzt, an unserem letzten Abend hier im Wald. Es war der Abschied für die Reise nach New York … und dann geschah das Unfaßbare auf der Autobahn.
Er wischte sich über die Augen. Die Verzauberung, die der Anblick Veras in ihm auslöste, blieb, aber alle Sehnsucht, die er vor dem heimlichen Spiegel in sich aufgeladen hatte, löste sich auf. Es war Dr. Rathberg, als stände sie jetzt zwischen ihnen, die einzige Frau, die er geliebt hatte und die kein Abenteuer gewesen war. Die
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