Der goldene Kuß
sie, und dann wurde sie von der Melodie gepackt, ihr Körper bewegte sich im Takt, ein Prickeln zog von der Kopfhaut bis zu den Zehenspitzen.
Sie sang, als hätte es in ihrem Leben nie etwas anderes gegeben als diese Melodie.
Detlev Cranz saß ganz still hinter dem Mischpult und starrte Vera an. Er und die drei Ingenieure taten nichts – kein Schalleffekt, kein Echo, keine Verbesserung, nichts. Sie saßen da und hörten zu.
Und dann war die Musik zu Ende und Vera nahm ihren Kopfhörer ab. Aus seiner dunklen Ecke klatschte Horst Helmke.
»Sie werden live singen, Vera!« tönte die Stimme von Cranz aus dem Lautsprecher. »Das war wunderbar! Wieso sagten Sie. Sie könnten nicht singen?«
»Ich … ich habe es nie so richtig geglaubt.«
»Ich kann Ihnen sagen, daß Sie fabelhaft sind, Vera! Playbackaufnahmen sind für Sie endgültig gestorben! Wir sehen uns um 15 Uhr im Studio I zur Probe.«
Dann waren sie allein, Vera Hartung und Horst Helmke. Im Regieraum war das Licht ausgeknipst worden, im Studio brannte nur eine trübe Deckenlampe. Der Raum sah trostlos aus, leer und bedrückend. Ein Zimmer im November.
»Ich bin so glücklich, Horst«, sagte Vera und fiel Helmke um den Hals. »Wenn alles so glatt weitergeht …«
»Wenn …« Helmke gab Vera einen schnellen Kuß. »Aus Zürich kommt die Meldung, daß Quizmaster Holger Roggenkamp mit einer Grippe im Bett liegt. Er frißt pfundweise Pillen, um wieder auf die Beine zu kommen. Hoffentlich gelingt es. Wenn nicht, ist die Premiere auf drei Monate verschoben. Keine Halle ist mehr frei. In der Programmdirektion laufen sie herum wie geschlagene Boxer; lauter dicke Köppe! Und einen Ersatz für Roggenkamp gibt es nicht. Der Intendant hat schon Boten ausgeschickt, als ginge es zum Kreuzzug. Aber keiner will.«
»Und was wird dann aus mir?« fragte Vera, plötzlich aus allen Himmeln gerissen.
»Auch das habe ich aus der Sekretärin von Pelz hervorgelockt … dann fliegen wir nach Zypern und drehen ›Ich suche Kain‹ weiter …«
»Wir?« sagte Vera leise. Sie umklammerte den Kopf des lachenden Helmke. »Wir, sagst du?« Sie zitterte vor Freude.
»Ja, mein Liebling. Du bekommst die Rolle der Jarut … und ich fahre als Chefkameramann auch mit …«
Es war gut, daß niemand mehr im Tonstudio III war, denn der Kuß, der nun folgte, hätte bei jedem Neidgefühle erweckt.
*
Der Zustand von Holger Roggenkamp in Zürich besserte sich vorerst nicht. Die Telefongespräche zwischen ihm und Pelz oder Dr. Rathberg waren trist. Immer dasselbe: Fieber, Heiserkeit, Blei in den Gliedern, Mattscheibe vor den Augen.
»Ich schwitze mich dumm und dusselig!« sagte Roggenkamp am Telefon. »Ich tue, was ich kann.«
»Dumm und dusselig war er schon immer«, sagte Pelz gehässig nach diesem Anruf zu Dr. Rathberg. »Das ist keine Hoffnung, daß er pünktlich gesund wird.«
»Wir haben noch vier Wochen Zeit.« Dr. Rathberg überblickte den Drehplan. »Herr Cranz will jetzt die Außenaufnahmen machen? Gut. Dann haben wir wenigstens die im Kasten.« Er sah schnell hoch zu Theo Pelz. »Was macht Frau Jarut?«
Frau Jarut, dachte Pelz. Wie offiziell. Der Alte ist doch der beste Komödiant von uns allen. »Sie nimmt an«, sagte er leichthin.
»Gut. Wieviel?«
»Hunderttausend.«
»Sind Sie verrückt?« Dr. Rathberg sank hinter seinen Schreibtisch in den Sessel und ergriff ein Lineal. Pelz kannte das. Wenn es ganz haarig wurde, schlug Rathberg damit auf die Tischplatte, als sei er Siegfried und probiere sein Schwert. »War es nicht billiger zu machen?«
»Ich hatte bis hunderttausend Ihre Erlaubnis.«
»Als Höchstgrenze.«
»Wir alle kennen doch Karin! Sie nimmt immer die Höchstgrenze.«
Intendant Dr. Rathberg sah mißmutig auf sein Lineal. Er schwenkte es durch die Luft wie eine Fliegenklatsche. »Was wird sie jetzt machen?«
»Ich nehme an, sie geht auf Tournee mit einem modernen Stück.«
»Tournee ist gut.« Dr. Rathberg legte das Lineal weg. »Da lernt sie wenigstens etwas! Unsere kleine Vera macht sich gut, nicht wahr? Ich habe gestern das Musikband abgehört … phänomenal! Eine Naturbegabung! Wohnt sie noch im Hotel?«
Als wenn du das nicht wüßtest, dachte Pelz und machte ein verschlossenes Gesicht. »Ja«, sagte er laut. »Aber es wird nicht lange dauern, und sie wird eine Wohnung haben. Oder einen Bungalow im Grünen …«
»Meinen Sie?« Dr. Rathberg sah Pelz forschend an. Dieser hielt dem Blick stand. Ich bin kein Kaninchen, das von der Schlange hypnotisiert
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