Der goldene Schwarm - Roman
Gefühl, dass alles, was er je für wahr gehalten hat, ein Missverständnis war.
Einen Augenblick später hebt die Biene wieder ab und summt im Raum herum. Sie knallt fröhlich gegen Polly Cradles Kopf, den Lampenschirm und schließlich gegen das Fenster.
Alle fangen gleichzeitig zu reden an, und in der allgemeinen Verwirrung wundert es niemanden, dass Joe aus dem Zimmer huscht, um sich das Gesicht zu waschen.
Als Joshua Joseph Spork aus der Tür von Polly Cradles Haus tritt, hat er das eigenartige Gefühl, nach Hause zu kommen und zugleich einen schlimmen Betrug zu begehen. Während er in zunehmender Dunkelheit die Straße hinuntergeht und ihm klar wird, dass er sich auf der Flucht befindet, verspürt er eine Verbundenheit mit seinem Vater, die alles übertrifft, was er jemals erlebt hat. Er zuckt vor Schatten zurück, weicht dem Licht von Laternen aus, und wenn er zufällig dem Blick von Passanten begegnet, legt er eine derartige Aggression in seinen Ausdruck, dass sie sofort wegschauen und ihn nicht weiter ansehen. Tatsächlich werden sie bewusst versuchen, ihn zu vergessen. Er steigt in einen Bus, steigt dann aus reiner Perversität an der nächsten Haltestelle wieder aus und nimmt einen anderen, der mit großem Umweg sein Ziel ansteuert. Vielleicht ist es auch weniger Perversität als die vernünftige Erkenntnis, dass sein Verhalten übereilt ist und deshalb alles, was er jetzt tut, richtig gemacht werden muss oder gar nicht. Er muss im perfekten Nachtmarkt-Stil arbeiten, mit aller nötigen Hochachtung vor Irreführung und Tricks.
Er fühlt sich lebendig.
Andererseits fühlt er sich schäbig. Mercer wird darüber wegkommen, Joe als Idioten bezeichnen und sich dann daranmachen, die Situation zu retten. Aber dass Polly darüber wegkommen wird, ist nicht ganz so sicher. Natürlich erleidet sie keinen körperlichen Schaden, aber dass Joe davongeschlichen ist – mit Erfolg den Plan ausgeführt hat, den er schon im Sinn hatte, als sie ihn beim ersten Mal erwischte –, wird sie verletzen. Er weiß das, und sie wird wissen, dass er es weiß und es trotzdem getan hat, und das wird sie noch mehr verletzen. Er bereut seine Entscheidung trotzdem nicht: Hier geht es nicht darum, ob man Abbitte leisten möchte oder nicht. Blutsverwandtschaft kann man sich nicht aussuchen. Wenn auch das, was zwischen ihm und Polly passiert, nicht unterschätzt werden sollte. Sie haben sich gewissermaßen als zusammenpassende Puzzleteile gefunden. Sie teilen etwas, das über ihren Geruch auf seiner Haut hinausgeht, und das er auf keinen Fall definieren oder erkennen will, bevor es Zeit hatte, in ihm Fuß zu fassen.
Dass Polly Cradle eines Tages seine Familie sein könnte, dass sie womöglich Cradle und Spork gemeinsam zu einer grandiosen Dynastie der ganz speziellen Regeln und kriminellen Wagnisse verbinden könnten, schiebt er mit Nachdruck beiseite. Bevor er nach dieser Zukunft auch nur die Hand ausstrecken kann, muss er erst den Trümmerhaufen der Vergangenheit erklimmen und sich einen Überblick darüber verschaffen, wie die Welt wirklich aussieht. Die Trümmer von Mathews Vergangenheit, der, wie es nun aussieht, in seiner Jugend gar nicht vom rechten Wege abgekommen war, sondern die Altlasten anderer Leute zu tragen hatte – eine Beschreibung, die Joe immer auf sich selbst angewendet hat und die, wie ihm nun aufgeht, auf beinahe jeden zutrifft.
Wieder steigt er in einen anderen Bus um, späht durch die Scheibe, sieht seine eigenen Augen als schwarze Löcher in seinem Spiegelbild und blickt durch sie hindurch. Das Gebäude, auf das er es abgesehen hat, wird im Dunkeln unsichtbar, nur ein Schatten in den Schatten sein. Es ist kein Anlaufpunkt für die Touristen. Die Nonnen beleuchten die Fassade nicht, wie es manche Kirchen heutzutage tun. Das Haus ist weniger als hundert Jahre alt und über jedes vernünftige Maß hinaus hässlich. Es ist das jämmerlichste kirchliche Gebäude, das er je gesehen hat.
Das Tor ist finster, und finster ist auch der Weg, der dorthin führt: schwarzer Kies, Stücke aus Marmor und Basalt. ’68 muss das wie eine gute Idee ausgesehen haben, und nun darf es niemand mehr ändern; die gesamte Architektur ist durch alle möglichen Vorschriften und Satzungen geschützt.
Die Wände sind aus gelbem Stein, den die Zeit und die vorbeifahrenden Fahrzeuge haben grau werden lassen. Als Harriet Spork damals hierherkam, lagen gerade jede Menge Blumen vor einem Laternenpfahl, zum Gedenken an eine Radfahrerin, die bei
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