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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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besonderen Lebensstil entschlossen haben, in der Kontemplation des Göttlichen ihre Zeit verbringen. Er fragt sich, ob sie alle wirklich gläubig sind. Der Glaube ist ihm stets entweder als eine außergewöhnliche Gabe oder erschreckende Täuschung vorgekommen, je nachdem, ob es nun einen Gott gibt oder nicht.
    Joe nimmt die Treppe nach unten, in der Hoffnung, seine Mutter zu erwischen, wenn sie von ihren Abendgebeten zurückkommt. Wenn er sich beeilt, sollte er es eigentlich schaffen, bevor es hier nur so vor Ordenstrachten wimmelt und er streng vor die Tür gesetzt wird, weil er über externe Genitalien und eine unreine Seele verfügt.
    Auf halbem Weg stolpert er beinahe über eine Art Nonnenkrankenschwester, die auf einem Stuhl schlummert, der vor der Krankenstation steht, und er muss an ihr vorbeischleichen, wie es die Figuren in Cartoons tun: auf Zehenspitzen und – ohne dass es dafür einen wirklichen Grund gäbe – mit den Händen auf Brusthöhe. In einem abgewetzten Messingschild, das die Tugenden des heiligen Edgar aufzählt, kann er seine Räuberpantomime als Spiegelbild erkennen und lässt schnell die Hände sinken.
    Joe schlüpft in das Zimmer seiner Mutter und setzt sich aufs Bett, wobei er zu ignorieren versucht, dass das Bild von Mathew auf ihrem Nachttisch steht und das gerahmte Foto von ihm flach auf einer Kommode neben einem einzelnen Stuhl liegt. Er versucht sich einzureden, dass sie es dort bisweilen liebevoll an sich drückt, aber der Stuhl scheint nicht der Entspannung zu dienen, sondern eher der Buße. Also geht er davon aus, dass Harriet dort seinen Mangel an Ehrgeiz und sein Versagen beklagt oder sich in ihren Gesprächen mit Gott dafür entschuldigt, so eine schlechte Mutter gewesen zu sein. Dieser Gedanke macht ihn wütend, denn sie ist eine großartige Mutter gewesen: Sie hat ihn geliebt, für ihn gesungen, ihn gehegt und gepflegt, ihm bei seinen Schulaufgaben geholfen und ihm in allen Notlagen unerschrocken beigestanden. Erst nachdem sie den Gangster gegen Gott eingetauscht hatte, war sie langsam abgedriftet.
    In seinem früheren Leben hatte es Zeiten gegeben – vielleicht waren sie sogar gar nicht so selten gewesen –, als die Anwesenheit seiner Mutter für Joe Spork wie ein inneres Auftanken gewesen war. Sie machten Spaziergänge miteinander, seine kleine Hand in ihrer größeren, das kalte Armband ihrer Uhr strich gegen seinen Ärmel, und er fühlte sich wie ein Akku, der in eine riesige Aufladestation gesteckt worden war, die ihn mit Wärme und Sicherheit erfüllte. Nach einer halben Stunde, in der er mit Harriet im Park herumspaziert war und Drachen und Hunde entdeckt hatte, konnte er wieder ganze Tage der zappeligen Elektrozaun-Präsenz seines Vaters durchstehen. Es funktionierte auch umgekehrt; Harriet stand aufrechter da, wenn sie mit ihrem Sohn zusammen war. Sie gab das sinnliche, kokette Dreinblicken auf, entspannte ihre Gesichtsmuskulatur und gestattete es sich, häuslich und glücklich zu sein.
    Aber im gleichen Maße, wie sich das Größenverhältnis ihrer Handflächen veränderte, wurden auch diese gemeinsamen Momente seltener. Als Joes Hand irgendwann ebenso groß und schließlich größer war als die seiner Mutter, verspürten sie beide nicht mehr das Bedürfnis nach dieser Art von Kontakt, die ihnen so deutlich zeigte, dass die Zeit vorangeschritten war. Joe reagierte empfindlich, wenn er als Muttersöhnchen betrachtet wurde, und Harriet machte es zu schaffen, einen derartig erwachsenen Sohn zu haben. Zu viele unerwünschte Erinnerungen stiegen in ihr auf, wenn sie von dem kraftvollen, wölfischen jungen Mann berührt wurde, der ihrem verstorbenen Ehemann in seiner Blütezeit so ähnlich war. Nachdem Harriet schließlich in einer schmutzigen Kapelle im Flughafen Heathrow zu Gott gefunden hatte, empfanden sie beide die Gesellschaft des anderen als schmerzhaft, nicht weil sie unangenehm gewesen wäre, sondern weil sie auszehrte, was sie früher belebt hatte. Sie sprachen nur noch gelegentlich miteinander, trafen sich selten und berührten sich, wenn überhaupt, kaum noch. Als aus Harriet Schwester Harriet wurde und sie erklärte, dass ihr Rückzug aus dem weltlichen Leben bedeuten würde, dass sie Joe nur noch alle sechs Monate treffen konnte, wusste er nicht, ob dies die Distanz zwischen ihnen vergrößern oder verringern würde.
    Und dann ist sie plötzlich da, im selben Raum wie er. Als er ein Kind war, ragte sie über ihm auf und hätte seine Schlafanzughosen als

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