Der goldene Schwarm - Roman
Bermudashorts tragen können. Nun würde sie in ein Bein seiner Hosen passen, und Joe blickt zu ihr hinunter, da sie flache Schuhe trägt und ihm mit ihrem streng zurückgekämmten Haar gerade einmal bis zur Brust reicht.
Harriet Spork starrt ihren Sohn an, und er spürt, dass sie sich fragt, ob sie den Pförtner rufen und ihn rauswerfen lassen soll. Nein, kein Zweifel, natürlich sollte sie genau das tun; sie ist eine im Kloster lebende Frau, und seine Anwesenheit verstößt gegen alle Regeln. Sie versucht nur herauszufinden, ob sie es auch tun will , denn am Ende ist er schließlich doch ihr Sohn. Er hat sich nicht überlegt, was er unter diesen Umständen unternehmen würde, und sofort schießt ihm die Befürchtung durch den Kopf, dass sich diese Unbedachtheit nun rächen wird.
Offenbar nicht.
»Joshua«, sagt sie.
»Hallo, Mum.«
»Du steckst in Schwierigkeiten.« Keine Frage. Sie weiß es oder hat es korrekt geschlussfolgert. Vielleicht hat sie auch einfach immer damit gerechnet, dass es so kommen würde. »Ich kann dich nicht verstecken, weißt du. Die Kirche gewährt kein Asyl mehr.«
»Ich brauche kein Asyl.«
»Oh. Oh, du liebe Zeit.« Wenn er nicht versteckt werden will, dann ist er hier, weil er irgendeine andere Art von Hilfe erwartet. Er überlegt, ob er ihr sagen soll, er habe sie nur noch einmal sehen wollen, bevor er sich der Polizei stellt. Er fragt sich, ob diese Lüge Freude oder Schuldgefühle in ihr wecken und wie ihre Reaktion anschließend auf ihn wirken würde. Er wünscht sich, er könne damit aufhören, sie zu manipulieren, und einfach nur ihr Sohn sein, aber er weiß nicht mehr, ob er mit der Ehefrau Gottes spricht oder der Frau mit den Pflastern und dem warmen Hals, die dafür sorgen konnte, dass alles wieder gut wird. Kurz ist er auf irrationale Weise wütend auf Gott, weil dieser von ihr verlangt, ihren Sohn aufzugeben, und sagt es ihr auch beinahe, aber dann fällt ihm ein, dass dies nur wieder zu einem Vortrag über die Prüfung Abrahams führen würde.
Stattdessen sagt er: »Ich werde dich umarmen«, was er dann auch tut. Nach einem Moment des entsetzten Zögerns – schließlich tun sie so etwas zurzeit eigentlich nie – erwidert sie die Umarmung und schlingt nachdrücklich ihre Arme um ihn. Sie schaudert und fragt ihn, was um Himmels willen los sei und ob es ihm gut gehe, und dann zum zweiten Mal, was das alles zu bedeuten habe, und er erwidert, er habe keine Ahnung, er verstehe es nicht, aber dass Billy tot sei und die Welt auf dem Kopf stünde und es nicht seine Schuld sei, dass sie aber bitte, bitte, bitte vorsichtig sein müsse, auf jeden, jeden, jeden Fall. Dies scheint Harriets Gefühle komplett freizulegen, denn sie weint leise an Joes Schulter, und auch er weint und hat das Gefühl, dass es ganz ungerecht gewesen ist, sie mit alledem zu belasten, wo sie doch so klein ist.
Schließlich gelingt es ihr, sich von ihm zu lösen. Vielleicht ist auch einfach nur der Punkt erreicht, an dem die Umarmung ihr Ende gefunden hat und der Trost, den sie gewährt hat, von einem peinlichen Bewusstsein der Situation abgelöst wird. Sie treten voneinander zurück, und er schaut sie an.
Harriet Spork – Schwester Harriet – ist noch immer attraktiv. Die Stimme, die früher »Ma, He’s Making Eyes At Me« gesungen hat, wird nun für gewöhnlich nur noch für die Feier des Abendmahls eingesetzt, und ihr früher so ausdrucksvoll geschminktes Gesicht hat einen Ausdruck angenommen, der Glaube und Hingabe mit Barmherzigkeit und – in den selten Momenten, wo man sie wie jetzt unvorbereitet erwischt – einer vertrauensvollen Klarheit verbindet. Sie ist jetzt jedermanns Mutter, und Joe verspürt einen schrecklichen, eifersüchtigen Hunger, selbst wenn er allein mit ihr im Zimmer ist. Diese Segnungen gebühren mir , schreit sein Herz, mir und niemand anderem ! Es kommt ihm so ungerecht vor, dass sie ihr Mitgefühl anderen schenkt und ihm ihre Tür verschließt, obwohl ihm dieses Mitgefühl doch rechtmäßig am ehesten zusteht.
Sie hat jetzt graues Haar. Die verbliebenen schwarzen Strähnen sind verschwunden. Vielleicht waren sie ein letztes Zugeständnis an die Eitelkeit, das sie inzwischen aufgegeben hat. Ihre Wimpern sind noch immer spektakulär, ihre Hände noch immer elegant.
»Ich will nicht, dass du mir vergibst, Mum. Das habe ich nicht nötig.« Normalerweise nennt er sie Harriet, weil sie ihn darum gebeten hat. Doch der heutige Tag ist nicht normal.
»Wir alle haben Vergebung
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