Der goldene Schwarm - Roman
erkennen, ein Monster von der Form und der Größe eines Wales, das am Rande des Lichtkegels lauert, mindestens dreißig Meter unter Wasser.
Edie blickt sich um und sieht, was in diesem gigantischen Mosaik fehlt.
»Wer ist denn der Glückliche, der hier arbeiten darf?«, fragt sie, denn so sicher wie das Amen in der Kirche ist dies nicht ihr Einsatzort.
»Eine Wissenschaftlerin.«
»Und wo ist sie?« Auf der Suche nach einer Brille tragenden Schulmamsell mit Kreide an den Fingern, lässt Edie ihren Blick schweifen. Abel Jasmine seufzt.
»Ach. Wir hatten gehofft, dass Sie uns in dieser Angelegenheit helfen könnten, Miss Banister. Es gibt da ein kleines Problem.«
»Und das wäre?«
»Der Name des Problems lautet Shem Shem Tsien.«
Das Gesicht auf dem Foto ist schwarz-weiß, eingefärbt mit einem tiefen Zelluloid-Blau. Es ist nicht heller als die Gesichter darum herum, nicht älter, nicht näher an der Kamera. Und doch ist es unbestreitbar das Gesicht, einzigartig und herausgehoben.
Zugegeben, es gehört dem Mann, dem sich alle anderen offensichtlich unterordnen. Er ist kostspielig gekleidet und umgeben von Familienangehörigen, Konkubinen und Nachwuchs. Doch Edie hat durchaus schon Bilder gesehen, auf denen ein Kind, von der Kamera in einem Moment entspannter Freude zufällig eingefangen, solch ein Elternteil völlig in den Schatten stellt; auf dem ein gedankenloses Dienstmädchen in die Kamera geblickt und einen Moment lang seine natürliche Schönheit zur Schau und die soziale Ordnung auf den Kopf gestellt hat. Fotografie kennt keine Gnade – auch wenn es Unsinn ist zu behaupten, sie könne nicht lügen. Sie lügt vielmehr auf eine besondere, kapriziöse Weise, die aus Königen Bettler und aus Katzenfutterhändlern Götter macht.
Eine derartige Revolution findet hier aber nicht statt. Die Kamera hat sich schlicht verliebt. Sie hat sich komplett Shem Shem Tsien hingegeben, sich ihm zu Füßen geworfen und sich an seinem Altar geopfert. Er strahlt – wie ein unwiderstehlicher Filmstar – mit weißen Zähnen und einem Heldenschnurrbart aus zwei zarten Strichen, die aussehen, als wären sie mit Kohle aufgezeichnet worden, und die die Maskulinität seiner geschwungenen Oberlippe betonen.
Shem Shem Tsien: Absolvent des St John’s College, Cambridge; Debattierer, Spieler und Lüstling; geboren als zweiter Sohn des zweiten Sohns des Khaygul-Khan von Addeh Sikkim, ein Zwergstaat an der Grenze Britisch-Indiens. Industrialisierer und Modernisierer, gern gesehener Dinnergast bei Präsidenten wie bei sowjetischen Kommissaren, Großwildjäger und Bronzemedaillengewinner im Fechten bei den Olympischen Spielen. (Er wäre ohne Zweifel noch höher aufs Siegertreppchen gestiegen, hätte er nicht die vorausgehenden sechs Tage betrunken in den Armen eines vollbusigen Hollywood-Starlets verbracht.) Sein Lächeln lässt Ehen zerbrechen und Nonnengewänder fallen. Als junger Mann war er der Liebling der Boulevardpresse – und dann die Katastrophe: Sein Vater, sein Bruder und sein Onkel, der König selbst, wurden in ein und derselben Nacht von einer mysteriösen, das Gehirn schwellenden Krankheit dahingerafft, sodass nur noch Shem übrig blieb, um sich um seinen geliebten Neffen zu kümmern (der ebenfalls auf Abel Jasmines Foto zu sehen ist, wo er ein Schmetterlingsnetz in der Hand hält und sich scheu ans Knie seines Onkels klammert). Eine Pflicht, der er nachkam, indem er die Leichname in einer angemessenen Zeremonie verbrannte und den Jungen auf den Thron des Khayguls setzte. Unvorhergesehenerweise blieb jedoch eine Fischgräte in der Kehle des jungen Staatsoberhauptes stecken und ließ sich nicht wieder herausholen, was den weisen, gebildeten, geselligen Shem Shem Tsien zum letzten (offiziell anerkannten) Spross des Herrschergeschlechts machte.
Doch dann wäre da noch die andere Version: Shem Shem Tsien, das ungeliebte und misstrauisch beäugte Kind, geboren neun Monate nach dem Besuch eines berühmten britischen Freigeistes, sein Gesicht ein wenig zu schön, sein Haar zu dick, um der Sohn seines Vaters zu sein. Nachdem er zwar nicht explizit ins Exil geschickt, sondern eher dazu ermutigt wurde, sich mal anderswo umzutun, diente er in der britischen Armee ebenso wie in der russischen und erkämpfte sich ein Hoheitsgebiet im Opiumhandel, bevor er wieder nach Addeh Sikkim zurückkehrte. Er kennt die Camorra von Neapel und die Yakuza Tokios, die Boxertriaden aus Peking und die Kindly Men aus London. Er produziert und
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