Der goldene Schwarm - Roman
verkauft Laudanum an Könige und Betäubungsmittel an Armeen. Er ist Svengali, Mesmerist, Erpresser, Wucherer und Kidnapper (was man, wie Abel Jasmine verächtlich feststellt, von einem Cambridge-Absolventen auch nicht anders erwarten kann). Er ist auch ein Giftmischer, ein Förderer von Kriminellen und seines Zeichens Attentäter und Seuchenbringer. Waren sein Bruder, sein Vater und sein Onkel tatsächlich bereits tot, als er sie in eine eiserne Kammer sperrte und sie in Brand steckte? Man weiß es nicht. Sein unbequemer Neffe, berichten Abel Jasmines Agenten, wurde jedoch zweifellos mit dem Kopf nach unten auf einen Teller mit einem riesigen Seewolf gepresst, bis er erstickte. (Welcher Idiot würde denn auch so ein gigantisches, vom Aussterben bedrohtes Ungetüm essen? Es ist, als würde man das letzte Mammut verspeisen, ein Gericht für die wahrhaft Zügellosen.)
Shem Shem Tsien besitzt die umfangreichste Sammlung präparierter Schmetterlinge auf der ganzen Welt.
Er stellt beinahe einhundert Daumen in einer Vitrine aus.
Er wird in Botschaften von Brunei bis Moskau empfangen und hält Grundbesitz in Mayfair.
Fünfzehntausend Infanteristen, neuntausend Kavalleristen und dreitausend Artilleristen, Pioniere und Mörder empfangen ihre Befehle ausschließlich von seinen Lippen.
Sein Wort ist Gesetz von Kalimpong bis zu den südlichen Grenzen Afghanistans.
Shem Shem Tsien ist der Opium-Khan.
Edie kommt es allerdings vor, als trage Großbritannien die alleinige Schuld an Shem Shem Tsien. Denn aus welchen dringlichen Gründen auch immer hat die Mutter der Demokratien diesen Mann an ihrer Brust genährt. Die bedeutendsten Bildungsinstitutionen des Empires haben ihn geformt, Englands Militär hat ihn ausgebildet, und in britischen Wohnzimmern und Salons wurde seine Erziehung vollendet. Oh, das ganze Europa hat eine Rolle gespielt. Bei Shem Shem Tsien geben sich Marx und Wellington die Hand, Paine und Napoleon, und alle streiten darum, wer den Königsmacher abgeben darf – aber in Großbritanniens Schmelztiegel ist er zusammengesetzt worden. Ein britischer Teufel, voller guter Manieren und giftiger Freundlichkeit, in jeder Hinsicht ein hausgemachter internationaler Bastard des Verbrechens.
Von seiner ganzen Familie ist außer ihm selbst nur ein weiteres Mitglied übrig geblieben: seine verehrte und liebenswerte Mutter, die königliche Witwe Khatun Dalan, die man in Bloomsbury noch immer als Dotty Catty kennt. 1887, als sie noch jung war, ist sie mit einem Anhänger des höchsten englischen Adels aus einer Music Hall geworfen worden, was seinerzeit keine leichte Aufgabe gewesen ist – und heute ist sie die Einzige der ganzen Brut, der Shem Shem Tsien genug traut, um sie am Leben zu lassen.
Diejenige, die ihn nun verraten hat.
Edie wirft noch einen Blick auf Shem Shem Tsiens Fotografie, blättert dann zum Anfang der Akte zurück. Der Titel auf dem Frontispiz beunruhigt sie: Engelsschöpfer . Er klingt ihr insgesamt zu kirchlich, zu sehr wie ein Bestattungschoral. Sie schaudert und blättert die Seite um.
Die Ruskiniten sind Auftragshandwerker. Sie äußern sich nicht über die Projekte, an denen sie arbeiten. Ihre Aufgabe besteht darin, den göttlichen Funken im Detail menschlicher Arbeit zu finden – aus der Spionage halten sie sich raus.
Doch der Akte zufolge bestellte der Hüter vor neun Tagen Abel Jasmine ins Sharrow House, das stattliche Gebäude auf der anderen Seite der Hammersmith Bridge, das den Ruskiniten als Behausung dient.
Der Hüter überbrachte ihm eine Botschaft.
»An einem weit abgelegenen Ort«, begann er, »unterstützen wir eine Französin bei der Konstruktion von … Dingen.«
»Was für Dingen?«
»Wir sind uns nicht sicher. Sie ändert ihre Pläne oft. Anfänglich ging es um mechanische Türken.«
»Wie bitte?«
»Automaten. Wie der Von-Kempelen-Schachtürke, auch wenn der sich schließlich als durchaus menschlich herausstellte. Diese … sind es nicht. Sie verstehen, was das impliziert. Soldaten aus Metall.«
Abel Jasmine nickte. Er erkannte die Implikationen tatsächlich. Spätestens seit dem Großen Krieg bildete der Gedanke ein beliebtes Motiv populärer Romane. Künstler hatten darüber nachgegrübelt, bedeutende Denker darüber geschrieben. Die Schreckensbilder von all den amputierten Helden, die aus Verdun und Ypern zurückgekehrt waren, hatten einen gewaltigen Einfluss auf Europas Vorstellung vom Krieg gehabt. Vielen gefiel die Idee, nach einer klinischen Lösung zu suchen
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