Der goldene Schwarm - Roman
und der Nachtmarkt erstreckt sich vor ihnen wie das Zentrum einer mittelalterlichen Stadt, behangen mit Laternen und Generatoren mit Kurbelgriff, an denen schwache Glühbirnen leuchten. Buden, Handkarren und ganze Geschäftsauslagen stehen in Reihen nebeneinander und ziehen sich auf hölzernen Gehsteigen an den Wänden hinauf, sodass es wirkt, als befinde man sich in einer großen, länglichen Schale oder in einem Schiffsrumpf, wo Hunderte von Händlern ihre Preise und Angebote ausrufen und um Aufmerksamkeit buhlen. Und in dieses Meer hinein führt sein Vater sie beide und wird links und rechts begrüßt und bewundert.
Rote Samtwände und Armsessel aus Cord; Ölgemälde, Goldmünzen, Cornish Pasties und Tee, Pfeifenrauch und Minzgelees, türkischer Kaffee, vergilbte Spielkarten und Schachbretter. Der Nachtmarkt ist all das, aber vor allem besteht er aus seinem Vater und den Onkeln, die auf Kissen sitzen und in den kurzen Stunden der Nacht Baklava und Teekuchen essen, Geschichten erzählen und die Fragen eines kleinen, faszinierten Jungen beantworten, während seine Mutter lächelt und mit Dutzenden Tanten Tratsch austauscht. Jeder hier ist ein »Onkel« oder eine »Tante« oder, was ungewöhnlicher ist, ein Neffe oder eine Nichte, wie etwa der Junge und das Mädchen, die auf den benachbarten Kissen sitzen, die Mündel von Onkel Jonah, der als Einziger einen Anzug trägt, dessen schiefes Lächeln aber wie ein Leuchtturm strahlt, wenn es auf die Kinder fällt.
Joshua Joseph erkundigt sich sehr höflich, warum hier niemand einen Familiennamen hat. Mathew wirft dem breitschultrigen Mann, vor dessen Schubkarren sie gerade stehen, einen Blick zu. Er nennt sich selbst Tam, und bei Tageslicht führt er einen eleganten Laden, in dem Männer der Upperclass Kleidung und Zubehör für die Jagd und das Angeln erwerben. Seine Waren liefert er selbstverständlich mit Freuden persönlich ins Haus seiner Kunden, sodass Tam über die in wohlhabenden Häusern vorhandenen Wertgegenstände üblicherweise hervorragend informiert ist.
»Die Männer des Marktes, Joshua«, sagt Onkel Tam, während sein großer Kopf über einem Whiskeyglas nickt, »Männer wie du und ich, haben Schwierigkeiten mit Namen. Mit dem Gedächtnis insgesamt. Wir erinnern uns an das, was wichtig ist, natürlich, aber diese anderen Dinge vergessen wir irgendwie, damit sie uns nicht herausschlüpfen, wenn sie es nicht sollen. Der Nachtmarkt trägt seinen Namen nicht nur, weil wir ihn abhalten, wenn die Sonne untergeht. Sondern auch, weil all das unter dem Deckmantel der Dunkelheit stattfindet. Alles ist voller Schatten und Nebel, und so sehen wir nicht, an was wir uns nicht erinnern möchten, wenn du verstehst, worauf ich hinauswill.«
Joshua Joseph versteht es nicht.
»Also, meine Familie stammt aus Cornwall, ja? In früheren Zeiten Schiffsausschlachter. Du weißt, was ein Schiffsausschlachter ist?«
»Eine Art Pirat.«
»Hm, nun, ja und nein. Ein Pirat strengt sich mächtig an, um an seine Beute zu kommen, Joshua. Er entert ein Schiff und trägt den Sieg in einer Schlacht davon, und er riskiert, gehängt zu werden oder im Kampf umzukommen und all so was. Ein Ausschlachter ist ein stillerer Geselle mit einem Auge fürs Geschäft. Er lässt die Küste für sich arbeiten und trickst den Steuermann aus – du weißt doch, was ein Steuermann ist?«
Da der Mann von der Steuer von jedem, den er jemals getroffen hat, als ein Teufel verflucht wird, der den Leuten ihr wohlverdientes Geld wegnimmt und es in die vollen Säcke der Sozialisten und Bankiers stopft, weiß Joshua Joseph es tatsächlich, also nickt er.
»Er bringt den Steuermann dazu, sein mit Gold und Rum beladenes Schiff gegen die Felsen krachen zu lassen, und dann wird alles, was von Wert ist, von den Wellen an den Strand gespült. Manchmal auch der Steuermann und seine Kollegen – von denen übrigens gar nicht wenige, wenn sie nicht ertrunken sind, am Ende eine Ausschlachter-Weibsperson geheiratet und von da an ebenfalls am Strand Rum getrunken haben, schließlich ist ein Steuermann auch nur ein Mann wie jeder andere, ay?
Der springende Punkt ist, dass ein Ausschlachter sein Werk in der Dunkelheit vollbringt; wenn also der Schutzmann kommt, dann hat niemand sein Gesicht gesehen, nicht mit Sicherheit, und er kann einen heiligen Eid auf die Bibel schwören, wenn’s verlangt wird, dass er nicht mit Bestimmtheit sagen kann, wer außer ihm noch dabei gewesen ist und die Beute an den Strand gebracht oder
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