Der Graf von Monte Christo 2
die Verhaftung Benedettos erfahren hatte, nachdem die Pfl egerin die von dem Doktor bereitete Arznei hingestellt und sich in die Gesinderäume zurückgezogen hatte, ging in dem so sorgfältig verschlossenen Krankenzimmer etwas Merkwürdiges vor.
Die Pfl egerin war seit ungefähr zehn Minuten fort. Valentine fi e-berte wie jede Nacht. Unablässig arbeitete ihr Gehirn und stellte ihr immer von neuem dieselben Bilder vor Augen. Plötzlich glaubte sie in dem zitternden Schein der Nachtlampe ihren Bücherschrank, der neben dem Kamin in einer Vertiefung der Wand stand, sich langsam drehen zu sehen. Sie vernahm nicht das geringste Geräusch.
Zu einer andern Zeit hätte Valentine nach dem seidenen Glockenzug gegriff en und um Hilfe gerufen, aber in der Lage, in der sie sich befand, wunderte sie nichts mehr. Sie glaubte, daß alle diese Visionen Ausgeburten ihres Fiebers seien, und diese Überzeugung war ihr dadurch gekommen, daß morgens keine Spur von all den nächtlichen Phantomen zurückgeblieben war.
An der Stelle, wo der Bücherschrank gestanden hatte, wurde eine Öff nung sichtbar, und in dieser Öff nung erschien eine menschliche Gestalt.
Valentine war, dank ihrem Fieber, zu vertraut mit dieser Art Erscheinungen, als daß sie erschrocken wäre; sie öff nete nur die Augen weit, da sie hoff te, Morrel zu erkennen.
Die Gestalt kam dem Bett näher, blieb dann stehen und schien aufmerksam zu lauschen. In diesem Augenblick spielte ein Refl ex der Nachtlampe auf dem Gesicht des nächtlichen Gastes.
»Er ist es nicht«, murmelte Valentine.
Und sie erwartete, überzeugt, daß sie träume, daß dieser Mann, wie es in Träumen vorkommt, verschwinde oder sich in irgendeine andre Person verwandle.
Nun fühlte sie ihren Puls, der heftig klopfte. Sie erinnerte sich, daß sie diese lästigen Visionen am besten verschwinden machen könne, wenn sie tränke. Der Arzt hatte ihr zur Beruhigung das er-frischende Getränk bereitet, und wenn sie getrunken hatte, litt sie für einen Augenblick weniger.
Sie streckte also die Hand nach dem Glas aus; aber während sie ihren zitternden Arm aus dem Bett streckte, machte die Erscheinung noch rasch zwei Schritte auf das Bett zu und kam so nahe, daß sie ihren Atem hörte und den Druck ihrer Hand zu fühlen glaubte.
Diesmal übertraf die Illusion oder vielmehr die Wirklichkeit alles, was Valentine bisher erfahren hatte; sie begann sich für wach zu halten; sie war überzeugt, daß sie bei klaren Sinnen war, und zitterte.
Irgend jemand hielt die Bewegung ihres Armes auf, deshalb zog sie den Arm langsam wieder zurück.
Die Gestalt, von der ihr Blick sich nicht wieder losmachen konnte und die übrigens mehr schützen als drohen zu wollen schien, nahm dann das Glas, näherte sich der Nachtlampe und besah das Getränk, als ob sie die Durchsichtigkeit und Klarheit des Inhalts prüfe. Aber diese Untersuchung genügte noch nicht. Dieser Mann oder vielmehr dieses Phantom, denn es ging so leise, daß der Teppich das Geräusch der Schritte erstickte, dieser Mann nahm einen Löff el voll von dem Getränk aus dem Glas und kostete es. Valentine sah dem, was vor ihren Augen vorging, in einem Zustand regungsloser Betäubung zu.
Sie glaubte, daß alles sofort verschwinden werde, um einem andern Bild Platz zu machen; aber der Mann, statt zu verschwinden, näherte sich ihr wieder, hielt ihr das Glas hin und sagte mit bewegter Stimme: »Jetzt trinken Sie!«
Valentine zitterte. Es war das erstemal, daß eine ihrer Visionen mit diesem lebhaften Klang zu ihr sprach. Sie öff nete den Mund, um einen Schrei auszustoßen. Der Mann hielt einen Finger an seine Lippen.
»Herr Graf von Monte Christo«, murmelte sie.
»Rufen Sie nicht, erschrecken Sie nicht«, sagte der Graf, »hegen Sie nicht den leisesten Argwohn oder die geringste Unruhe; der Mann, den sie vor sich sehen, hat für Sie die Gefühle des zärtlichsten Vaters und respektvollsten Freundes.«
Valentine fand keine Antwort; sie hatte so große Furcht vor dieser Stimme, die ihr die wirkliche Anwesenheit des Sprechenden off enbarte, daß sie sich scheute, ihre Stimme zu der Stimme des Grafen zu gesellen; aber ihr erschrockener Blick besagte: Wenn Ihre Absichten rein sind, warum sind Sie hier?
Der Graf begriff , was im Herzen des jungen Mädchens vorging.
»Hören Sie mich an«, sagte er, »oder vielmehr sehen Sie mich an; sehen Sie, wie meine Augen gerötet sind und mein Gesicht noch bleicher ist als sonst; das kommt daher, daß ich seit vier Nächten
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