Der Graf von Monte Christo 2
hat über fünfzehn Jahre lang stets zugenommen, bis zu dem Augenblick, wo unbekannte und für mich noch unverständliche Katastrophen über mich gekommen sind, ohne daß, wie ich sagen kann, mich irgendeine Schuld träfe.
Sie haben nur an der Vergrößerung Ihres Vermögens gearbeitet, und zwar mit Erfolg, wie ich überzeugt bin. Ich verlasse Sie also, wie ich Sie genommen habe, reich, aber wenig achtungswert.
Leben Sie wohl! Auch ich will von heute an für eigene Rechnung arbeiten. Glauben Sie an meine Dankbarkeit für das gegebene Beispiel, das ich befolgen werde. Ihr sehr ergebener Gatte Baron Danglars.«
Die Baronin war Debray während dieser langen und peinlichen Lektüre mit den Augen gefolgt; sie hatte den jungen Mann trotz der Selbstbeherrschung, die er besaß, ein- oder zweimal die Farbe wechseln sehen.
Als er den Brief gelesen hatte, faltete er das Papier langsam wieder zusammen und nahm eine nachdenkliche Haltung an.
»Nun?« fragte Frau Danglars mit banger Stimme.
»Nun?« wiederholte Debray mechanisch.
»Was denken Sie von diesem Brief?«
»Das ist sehr einfach; ich glaube, daß Danglars mit einem bestimmten Argwohn abgereist ist.«
»Jedenfalls; aber ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« fragte Frau Danglars.
»Ich verstehe nicht«, sagte Debray mit eisiger Kälte.
»Er ist fortgegangen, vollständig fortgegangen, um nicht zurückzukehren.«
»Oh«, entgegnete Debray, »glauben Sie das nicht.«
»Doch«, antwortete die Baronin, »er wird nicht zurückkehren; ich kenne ihn, er ist unerschütterlich in allen Entschlüssen, die sich auf seine geschäftlichen Angelegenheiten beziehen. Hätte er geglaubt, daß ich ihm zu irgend etwas nützlich sein könnte, so hätte er mich mitgenommen. Er läßt mich in Paris, weil unsre Trennung seinen Plänen dienen kann; sie ist also unwiderrufl ich, und ich bin für immer frei«, fügte Frau Danglars mit bittendem Ausdruck hinzu.
Aber Debray antwortete nicht auf diese ängstliche Frage des Blickes und des Gedankens.
»Wie«, sagte sie endlich, »Sie antworten nicht?«
»Ich habe Sie nur eins zu fragen: Was denken Sie, das aus Ihnen jetzt werden soll?«
»Das wollte ich Sie fragen«, antwortete die Baronin klopfenden Herzens.
»Ah!« entgegnete Debray. »Sie wünschen also einen Rat von mir?«
»Ja, ich bitte Sie um einen Rat«, sagte die Baronin gepreßt.
»Nun, wenn Sie mich um einen Rat bitten«, antwortete der junge Mann kalt, »so rate ich Ihnen zu reisen.«
»Zu reisen!« murmelte Frau Danglars.
»Gewiß. Wie Danglars gesagt hat, sind Sie reich und vollständig frei; eine Abwesenheit von Paris wird, meiner Ansicht nach wenigstens, nach der mißglückten Heirat Eugenies und dem Verschwinden Danglars’ unbedingt nötig sein. Nur ist es wesentlich, daß jeder weiß, daß Sie verlassen sind, und Sie für arm halte; denn man wür-de der Frau des Bankrotteurs ihren Überfl uß und ihr großes Haus nicht verzeihen.
Für das erstere genügt es, daß Sie vierzehn Tage in Paris bleiben, jedem wiederholen, daß Sie verlassen sind, und Ihren besten Freundinnen erzählen, wie es zugegangen ist; die werden es dann schon weiterverbreiten. Dann verlassen Sie Ihr Haus, lassen Ihre Kleinodien zurück, verzichten auf Ihr Leibgedinge, und jeder wird Ihre Selbstlosigkeit rühmen und Ihr Lob singen.
Dann wird man wissen, daß Sie verlassen sind, und wird Sie für arm halten; denn ich allein kenne Ihre fi nanzielle Lage und bin bereit, Ihnen als treuer Teilhaber Rechnung abzulegen.«
Die Baronin hatte bleich und niedergeschmettert diese Rede mit Entsetzen und Verzweifl ung angehört, während Debray ruhig und gleichgültig geblieben war.
»Verlassen!« wiederholte sie. »Oh, fürwahr, verlassen … Ja, Sie haben recht, und niemand wird eine Ahnung davon haben, wie verlassen!«
Das waren die einzigen Worte, die diese stolze Frau, deren ganzes Herz Debray gehörte, antworten konnte.
»Aber reich, sehr reich sogar«, fuhr Debray fort, indem er einige Papiere aus seiner Brieftasche nahm und auf dem Tisch ausbreitete.
Frau Danglars ließ ihn gewähren; sie suchte die Tränen zurückzuhalten, die aus ihren Augen hervorbrechen wollten, und es gelang ihr mit Mühe, ihre äußere Ruhe zu wahren.
»Es ist ungefähr sechs Monate her, seit wir uns assoziiert haben«, sagte Debray. »Sie haben hunderttausend Franken eingelegt. Im April dieses Jahres fand die Assoziierung statt; im Mai haben wir vierhundertfünfzigtausend Franken verdient; im Juni ist der Gewinn
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