Der Graf von Monte Christo 2
Stimme. »Sie lieben mich zu sehr, als daß Sie mich hier festhalten würden; zudem habe ich unterschrieben.«
»Du wirst nach deinem Willen handeln, mein Sohn, ich werde nach dem Gottes handeln.«
»Nicht nach meinem Willen, Mutter, sondern nach der Vernunft, nach der Notwendigkeit. Wir sind beide verzweifelte Menschen, nicht wahr? Was ist Ihnen heute das Leben? Was ist es mir? Ohne Sie sehr wenig, Mutter, glauben Sie es mir; denn ohne Sie, ich schwö-
re es Ihnen, hätte dieses Leben an dem Tag aufgehört, wo ich an meinem Vater gezweifelt und seinen Namen verleugnet habe! Ich lebe, wenn Sie mir versprechen, noch zu hoff en; wenn Sie mich für Ihr künftiges Glück sorgen lassen, verdoppeln Sie meine Kraft. Ich werde dort unten den Gouverneur von Algier aufsuchen; er ist ein edles Herz und vor allem Soldat. Ich erzähle ihm meine traurige Geschichte und bitte ihn, gelegentlich den Blick nach der Seite zu wenden, wo ich sein werde, und wenn er Wort hält, wenn er mich beobachtet, so bin ich vor Ablauf eines halben Jahres Offi zier oder tot. Bin ich Offi zier, so ist Ihr Schicksal gesichert; denn dann habe ich Geld für uns beide und dazu einen neuen Namen, auf den wir beide stolz sein werden, da es Ihr wahrer Name sein wird. Falle ich … nun wohl, wenn ich tot bin, dann, liebe Mutter, werden Sie sterben, wenn Sie wollen, und dann wird unser Unglück in seinem Übermaß ein Ende haben.«
»Gut«, antwortete Mercedes, »du hast recht, mein Sohn; beweisen wir gewissen Leuten, die die Augen auf uns gerichtet halten und warten, was wir tun werden, um ihre Meinung danach zu bilden, beweisen wir ihnen, daß wir wenigstens würdig sind, beklagt zu werden.«
»Aber keine traurigen Gedanken, liebe Mutter!« rief der junge Mann; »ich schwöre Ihnen, daß wir sehr glücklich sind oder es wenigstens sein können. Sie sind eine Frau, die sich in ihr Schicksal zu fügen weiß; ich bin, wie ich hoff e, einfach und leidenschaftslos geworden. Bin ich einmal im Dienst, so bin ich reich; sind Sie einmal im Hause des Herrn Dantès, so sind Sie ruhig. Versuchen wir es, Mutter!«
»Ja, wir wollen es versuchen, mein Sohn, denn du mußt leben, du mußt glücklich sein«, antwortete Mercedes.
»Also ist unsre Teilung gemacht«, sagte der junge Mann, indem er sich heiter stellte. »Wir können noch heute abreisen. Ich gehe, um Ihren Platz zu belegen.«
»Aber der deine, meine Sohn?«
»Ich muß noch zwei oder drei Tage hierbleiben, Mutter; dies ist der Anfang der Trennung, und wir müssen uns erst daran gewöhnen. Ich brauche noch einige Empfehlungen, einige Auskünfte über Afrika und werde Sie in Marseille treff en.«
»Gut, so sei es, laß uns gehen!« sagte Mercedes, indem sie sich in den einzigen Schal hüllte, den sie mitgenommen hatte und der zu-fällig ein sehr wertvoller schwarzer Kaschmirschal war.
Albert raff te in der Eile seine Papiere zusammen, klingelte, um dem Hauswirt die schuldigen dreißig Franken zu zahlen, bot seiner Mutter den Arm und ging mit ihr die Treppe hinab.
Vor ihnen ging jemand, der sich umwandte, als er das Rauschen eines Seidenkleides vernahm.
»Debray!« murmelte Albert.
»Sie, Morcerf!« antwortete der Sekretär des Ministers, indem er stehenblieb. Die Neugier trug bei ihm über den Wunsch, nicht gesehen zu werden, den Sieg davon; zudem war er ja auch erkannt. Es schien ihm in der Tat ein interessantes Abenteuer, in diesem unbekannten Hotel den jungen Mann zu fi nden, dessen unglückliches Schicksal in Paris so viel Aufsehen erregt hatte.
»Morcerf!« wiederholte Debray.
Dann bemerkte er in dem Halbdunkel die noch jugendliche Gestalt und den schwarzen Schleier der Gräfi n.
»Oh, Verzeihung«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »ich lasse Sie allein, Albert.«
Albert verstand den Gedanken Debrays.
»Mutter«, sagte er, indem er sich an Mercedes wandte, »dies ist Herr Debray, Sekretär des Ministers des Innern, ein früherer Freund von mir.«
»Wieso ein früherer Freund, was wollen Sie damit sagen?« stot-terte Debray.
»Ich sage das, Herr Debray«, entgegnete Albert, »weil ich heute keine Freunde mehr habe und keine mehr haben darf. Ich danke Ihnen, daß Sie so gütig waren, mich zu erkennen.«
Debray stieg zwei Stufen in die Höhe und schüttelte Albert kräftig die Hand. »Glauben Sie mir, mein lieber Albert«, sagte er bewegt,
»ich habe tiefen Anteil an Ihrem Unglück genommen und stelle mich Ihnen in jeder Beziehung zur Verfügung.«
»Ich danke Ihnen«, entgegnete Albert
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