Der Graf von Monte Christo 2
warf dem jungen Mädchen einen raschen Blick zu, was Albert nicht bemerkte.
»Nein«, sagte sie, »ich erinnere mich nicht. Aber vielleicht wird er mir später einfallen, dann werde ich ihn nennen.«
»Wir ruderten also auf das Häuschen zu«, fuhr sie fort. »Es bestand nur aus einem Erd- und einem Obergeschoß. Aber darunter befand sich ein unterirdisches Gewölbe, wo meine Mutter und ich und unsere Frauen untergebracht wurden, und wo auf einem Haufen sechzigtausend Beutel und zweihundert Fässer lagen. In den Beuteln waren fünfundzwanzig Millionen in Gold und in den Fässern drei-
ßigtausend Pfund Pulver.
Neben diesen Fässern stand Selim, der Lieblingsdiener meines Vaters, Tag und Nacht mit einer brennenden Lunte in der Hand. Er hatte den Befehl, bei dem ersten Zeichen meines Vaters alles in die Luft zu sprengen: Haus, Wachen, Pascha, Frauen und Gold.
Ich erinnere mich, daß unsre Sklaven, die wußten, was ihnen drohte, Tag und Nacht weinten und beteten. Ich könnte nicht sagen, wie lange wir in dieser Lage blieben; ich wußte damals noch nicht, was Zeit war. Eines Morgens ließ uns mein Vater, der sich oben auf der Terrasse aufhielt, rufen. Er war ruhig, aber bleicher als gewöhnlich.
›Vasiliki‹, sagte er, ›heute kommt der Firman, der Erlaß des Groß-
herrn, und damit entscheidet sich unser Schicksal. Wird uns vollständige Begnadigung gewährt, so kehren wir im Triumph nach Janina zurück; ist die Nachricht schlecht, so fl iehen wir diese Nacht.‹
›Aber wenn die Wachen uns nicht fl iehen lassen?‹ fragte meine Mutter.
›Darüber kannst du beruhigt sein‹, erwiderte mein Vater lächelnd,
›Selim und seine Lunte bürgen mir für sie. Sie wünschen meinen Tod, aber nicht um den Preis, mit mir zu sterben.‹
Meine Mutter antwortete nur mit einem Seufzer auf diesen Trost, der meinem Vater nicht aus dem Herzen zu kommen schien.
Plötzlich machte mein Vater eine heftige Bewegung und setzte sein Fernrohr an die Augen. ›Eine Barke … zwei … drei … vier …‹, sagte er.
Er ergriff seine Pistolen und lud sie.
›Vasiliki‹, sagte er zitternd, ›in einer halben Stunde werden wir die Antwort des erhabenen Kaisers wissen, geh mit Haidee in das unterirdische Gewölbe.‹
Er beugte sich zu mir nieder und küßte mich. Es war der letzte Kuß meines Vaters. Als wir die Terrasse verließen, sahen wir die Barken, die auf dem See immer größer wurden.
Mein Vater ging in das Innere des Hauses, wo zwanzig Palikaren, im Getäfel verborgen, das Herannahen der Barken beobachteten und ihre langen Gewehre bereithielten. Patronen lagen in großer Anzahl auf dem Boden. Mein Vater sah auf die Uhr und ging unruhig hin und her.
Meine Mutter und ich kamen unten an. Selim war auf seinem Posten. Er lächelte uns traurig zu. Wir setzten uns neben ihn. Meine Mutter, die Christin war, betete. Selim wiederholte von Zeit zu Zeit die geheiligten Worte: ›Gott ist groß.‹
Meine Mutter näherte sich der Treppe und horchte.
›Sie kommen‹, sagte sie, ›hoff entlich bringen sie uns Frieden und Leben.‹
›Was fürchtest du, Herrin?‹ sagte Selim, ›wenn sie nicht den Frieden bringen, geben wir ihnen den Tod.‹
›Selim‹, sagte meine Mutter leise, ›was ist der Befehl des Herrn?‹
›Schickt er mir seinen Dolch, so heißt das, daß der Sultan ihn nicht in Gnaden annehmen will, und dann lege ich die Lunte an das Pulverfaß; schickt er mir seinen Ring, so hat ihm der Sultan verziehen, und ich liefere das Pulvermagazin aus.‹
Plötzlich hörten wir ein lautes Geschrei. Wir horchten; es waren Freudenrufe. Unsre Palikaren riefen den Namen des Franken, der nach Konstantinopel geschickt worden war. Es war off enbar, daß er die Antwort des erhabenen Kaisers überbracht hatte und daß sie günstig war.
Plötzlich kam jemand die Treppe herunter, und ein Schatten zeigte sich am Eingang des Gewölbes.
›Wer bist du?‹ rief Selim. ›Wer du auch seist, wage dich keinen Schritt weiter vorwärts.‹
›Preis sei dem Sultan‹, sagte der Schatten. ›Ali Tebelin ist begna-digt, und nicht nur sein Leben ist gesichert, sondern er erhält auch sein Vermögen und seine Güter zurück.‹
Meine Mutter stieß einen Freudenruf aus und drückte mich an ihr Herz.
›Halt!‹ sagte Selim zu ihr, da er sah, daß sie dem Ausgang zueilte,
›du weißt, daß ich auf den Ring warten muß.‹
›Das ist wahr‹, sagte meine Mutter.
Unterdessen hatten wir den Mann, der die Nachricht gebracht hatte, erkannt. Es war
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