Der Graf von Monte Christo 2
ihn niemand beobachtete. Er eilte mit Ali an den Nebeneingang, trat schnell ein und gelangte über die Dienertreppe, zu der er den Schlüssel bei sich hatte, in sein Schlafzimmer, ohne einen einzigen Fenstervorhang zu bewegen und ohne daß selbst der Hausmeister ahnte, daß der Hausherr zurückgekommen war.
Er gab Ali ein Zeichen, im Schlafzimmer zu bleiben, und trat in das Ankleidezimmer. Er sah sich um, es war alles wie gewöhnlich; der Schreibtisch war an seinem Platz, und der Schlüssel steckte darin; er schloß zweimal ab, nahm den Schlüssel an sich, entfernte dann von der Schlafzimmertür die doppelte Schließklappe des Riegels und trat wieder ins Ankleidezimmer.
Während dieser Zeit legte Ali die Waff en, die der Graf zu bringen befohlen hatte, auf den Tisch; es waren ein kurzer Karabiner und ein Paar Doppelpistolen. So bewaff net, hielt der Graf, der ein ausgezeichneter Schütze war, das Leben von fünf Personen in seiner Hand.
Es war halb zehn Uhr; der Graf und Ali aßen in der Hast ein Stück Brot und tranken ein Glas spanischen Wein; dann schob Monte Christo eines der beweglichen Wandbretter zurück, die ihm gestat-teten, von einem Zimmer in das andre zu sehen. Die Waff en lagen in seinem Bereich, und Ali, der neben ihm stand, hielt eine jener kleinen arabischen Äxte in der Hand, die seit den Kreuzzügen ihre Form nicht verändert haben.
Durch eines der Fenster konnte er auf die Straße hinabsehen.
So vergingen zwei Stunden; es herrschte die tiefste Dunkelheit, und doch vermochte Ali dank einer natürlichen Gabe und der Graf dank einer Fähigkeit, die er sich angeeignet hatte, die geringste Bewegung der Bäume im Hof zu unterscheiden.
Das Licht in dem Häuschen des Hausmeisters war längst erloschen.
Es war anzunehmen, daß der Angriff , wenn wirklich einer geplant war, von der Treppe des Erdgeschosses aus und nicht durch ein Fenster stattfände. Monte Christo war der Meinung, daß man es auf sein Leben und nicht auf sein Geld abgesehen habe. Man würde also den Angriff auf sein Schlafzimmer richten und entweder über die Nebentreppe oder durch das Fenster im Ankleidezimmer den Weg nehmen. Er stellte Ali vor die Tür zur Treppe und fuhr fort, das Ankleidezimmer zu beobachten.
Es schlug in der Stadt drei Viertel zwölf. Als der dritte Schlag verhallte, glaubte der Graf ein leises Geräusch vom Ankleidezimmer her zu vernehmen; diesem ersten Geräusch folgte ein zweites, dann ein drittes; beim vierten wußte der Graf, woran er war. Eine feste und geübte Hand war dabei, mit einem Diamanten eine Scheibe auszuschneiden.
Der Graf fühlte sein Herz schneller schlagen; er gab Ali ein Zeichen. Dieser, der begriff , daß die Gefahr von dem Ankleidezimmer her komme, tat einen Schritt, um sich seinem Herrn zu nähern.
Monte Christo war begierig zu erfahren, mit was für Feinden und mit wie vielen er es zu tun habe. Das Fenster, an dem gearbeitet wurde, befand sich der Öff nung, durch die der Graf in das Ankleidezimmer sah, gegenüber. Der Graf sah einen Schatten sich abzeichnen, dann wurde eine der Scheiben ganz undurchsichtig, als ob von außen ein Stück Papier daran geklebt würde; gleich darauf knackte die Scheibe, ohne zu fallen. Durch die entstandene Öff nung kam ein Arm und suchte nach dem Fenstergriff ; eine Sekunde darauf öff nete sich das Fenster, und ein Mann trat ein. Der Mann war allein.
Ein wagehalsiger Schuft! sagte der Graf zu sich selbst.
In diesem Augenblick fühlte er, daß Ali leicht seine Schulter be-rührte; er wandte sich um; Ali zeigte zum Fenster des Zimmers, in dem sie waren und das nach der Straße hinausging. Monte Christo ging drei Schritte auf das Fenster zu; er kannte die Sinnesschärfe seines treuen Dieners. In der Tat sah er einen andern Mann, der sich von einer Tür löste, auf einen Prellstein stieg und sich bemühte zu sehen, was bei dem Grafen vorging.
»Gut«, sagte er, »es sind ihrer zwei; der eine arbeitet, der andere steht Posten.«
Er gab Ali ein Zeichen, den Mann auf der Straße nicht aus den Augen zu verlieren, und trat wieder an die Öff nung. Der Eingestie-gene tastete mit vorgehaltenen Armen im Zimmer umher. Endlich schien er sich über alles im klaren zu sein; das Zimmer hatte zwei Türen; an beiden schob er die Riegel vor.
Als er sich der Tür des Schlafzimmers näherte, glaubte Monte Christo, daß er eintreten würde, und machte eine von den Pistolen fertig; aber er hörte nur den Riegel vorschieben.
Der Mann zog etwas aus der Tasche, das er auf
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