Der Graf von Monte Christo
verfolgst, verantworte dich. Warum gibt es au deiner Seite Verbrechen, die unbestraft bleiben?
Die Baronin erbleichte.
Nicht wahr, Sie sagten sich das? – Ich gestehe es.
Ich will Ihnen antworten, und Villefort näherte seinen Stuhl dem der Frau Danglars; dann stützte er seine beiden Hände auf seinen Schreibtisch und sprach mit einem dumpferen Tone als gewöhnlich: Es gibt Verbrechen, die unbestraft bleiben, weil man die Verbrecher nicht kennt und ein unschuldiges Haupt statt eines schuldigen zu treffen befürchtet; doch wenn die Verbrecher bekannt sind, so sollen sie, bei dem lebendigen Gott, sterben, gnädige Frau, wer sie auch sein mögen. Nachdem Sie meinen Eid, den ich halten werde, gehört haben, wagen Sie es noch, mich um Gnade für den Elenden zu bitten?
Ei! mein Herr, sind Sie sicher, daß er so schuldig ist, wie man behauptet?
Hören Sie, hier liegen die ihn betreffenden Akten: Benedetto wurde zuerst im Alter von sechzehn Jahren zu fünf Jahren Galeeren wegen Fälschung verurteilt; Sie sehen, der junge Mensch versprach etwas; dann ist er entwichen, dann Mörder geworden.
Und wer ist dieser Unglückliche?
Weiß man das? Ein Vagabund, ein Korse.
Er ist also von niemand reklamiert worden?
Von niemand; man kennt seine Verwandten nicht.
Doch der andere war aus Lucca?
Auch ein Gauner, wie er, vielleicht sein Genosse.
Die Baronin faltete die Hände und flüsterte mit ihrem süßesten und einschmeichelndsten Tone: Villefort!
Um Gotteswillen, gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit einer trockenen Festigkeit, um Gotteswillen, verlangen Sie doch von mir nicht die Begnadigung eines Schuldigen. Wer bin ich denn? Das Gesetz, das Gesetz. Hat das Gesetz Augen, Ihre Traurigkeit zu sehen? Hat das Gesetz Ohren, Ihre weiche Stimme zu hören? Hat das Gesetz ein Gedächtnis für Ihre zarten Gedanken? Nein, gnädige Frau, das Gesetz befiehlt, und wenn es befohlen hat, schlägt es! Sie werden mir sagen, ich sei ein lebendiges Wesen und kein Kodex, ein Mensch und kein Buch. Schauen Sie mich an, gnädige Frau, schauen Sie um mich her! Haben die Menschen mich als Bruder behandelt, haben sie mich geliebt? Haben sie mich geschont? Hat jemand Gnade für Herrn von Villefort verlangt? Nein! Nein! Nein! Geschlagen, stets geschlagen! Als Frau, das heißt als Sirene, schauen Sie mich beharrlich mit dem bezaubernden, ausdrucksvollen Auge an, das mich daran erinnert, daß ich erröten muß. Wohl! es sei, ja, erröten über das, was Sie wissen, und vielleicht noch über etwas anderes! Doch, seitdem ich gefehlt habe und vielleicht ärger als die andern gefehlt habe, habe ich die Kleider der andern geschüttelt, um das Geschwür darunter zu finden, und ich habe es immer gefunden; ich sage noch mehr, ich habe es mit Glück, mit Freude gefunden, dieses Siegel der Schwäche oder der menschlichen Verkehrtheit! Denn jeder Mensch, den ich als schuldig erkannte, und jeder Schuldige, den ich schlug, erschien mir als ein neuer Beweis dafür, daß ich selbst keine häßliche Ausnahme war! Ah! die ganze Welt ist böse, beweisen wir dies, und schlagen wir den Bösen!
Villefort sprach diese Worte mit einer fieberhaften Wut, die ihm eine wilde Beredsamkeit verlieh.
Oh, mein Herr! rief die Baronin, Sie sind unbarmherzig gegen die andern! Wohl, so sage ich Ihnen, man wird unbarmherzig gegen Sie sein!
Es sei! sagte Villefort, seine Arme mit drohender Gebärde zum Himmel emporstreckend.
Verschieben Sie wenigstens den Prozeß des Unglücklichen, wenn er verhaftet wird, bis zur nächsten Schwurgerichtstagung; das gibt doch sechs Monate zum Vergessen.
Nein, ich habe noch fünf Tage, und die Voruntersuchung ist fertig. Bedenken Sie auch, daß ich ebenfalls vergessen muß! Wenn ich arbeite, wie ich es Tag und Nacht tue, dann gibt es Augenblicke, wo ich mich nicht mehr erinnere, und dann bin ich glücklich nach Art der Toten, und das ist immer noch besser als leiden.
Er ist entflohen; so lassen Sie ihn entfliehen! Die Saumseligkeit ist eine geringe Nachsicht.
Aber ich sagte Ihnen bereits, daß es zu spät ist; mit Tagesanbruch hat der Telegraph gespielt, und zu dieser Stunde ...
Herr Staatsanwalt, sagte der eintretende Kammerdiener, hier eine Depesche aus dem Ministerium.
Villefort nahm den Brief und entsiegelte ihn rasch.
Frau Danglars bebte vor Schrecken, Villefort vor Freude.
Verhaftet! rief Villefort; man hat ihn in Compiegne verhaftet, es ist vorbei.
Frau Danglars erhob sich kalt und bleich.
Leben Sie wohl, mein Herr! sagte
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