Der Graf von Sainte-Hermine - Dumas, A: Graf von Sainte-Hermine - Le Chevalier de Sainte-Hermine
Tauwerk oder für ein Zusammentreffen nächtlicher Geräusche gehalten hatten, wie sie die Seereisenden des Altertums als Gesang der Meeresgottheiten deuteten, doch nie wäre ihnen der Gedanke gekommen, dass diese Seufzer einer unbestimmbaren und zugleich unerschöpflichen Traurigkeit von einer Menschenhand und den kalten Tasten eines Klaviers hervorgebracht sein könnten.
Nach dem Mittagessen blieb man in Renés Kajüte, um sich nicht an Deck den unbarmherzigen Sonnenstrahlen auszusetzen, und René zeigte den Schwestern das Klavier und die Instrumente an der Wand; doch als er sah, dass die Augen der Mädchen sich mit Tränen füllten, dachte er an den Leichnam ihres Vaters, den er zusammen mit ihnen in unbekannte Länder brachte, die voller Gefahren waren.
Und die Finger des jungen Mannes erweckten auf dem Klavier die melancholische Melodie, die Weber in Wien komponiert hatte. Wie die Gedichte André Chéniers und Millevoyes war diese Musik etwas völlig Neues in dieser neuen, von Revolutionen erschütterten Welt, die so vieles zu beweinen hatte. Unwillkürlich erstarb die Melodie zu schlichten Akkorden, die noch melancholischer und kummervoller waren. Als Webers Lied verklungen war, bewegten sich Renés Finger wie von allein weiter und spielten statt der Träumereien des Komponisten seine eigenen Phantasien. In solchen Improvisationen, die man nicht erlernen kann, offenbarte sich die Seele des jungen Mannes ganz und gar. Wer vermeint, in der Musik lesen zu können wie in einem Buch, der konnte in dieses Klavierspiel blicken wie durch eine Wolke, die ein schönes Tal oder eine üppige Ebene in eine eigene Welt verwandelt, in der die Bächlein nicht rauschen, sondern seufzen, und die Blumen weinen, statt zu duften. Diese Musik war so ungewohnt und so unerwartet für die Schwestern, dass ihnen Tränen die Wangen hinunterliefen, ohne dass sie es merkten. Als Renés
Finger unvermutet innehielten – denn solche Akkorde kennen keine zeitliche Beschränkung -, erhob Jane sich von der Bank und kniete vor Hélène nieder.
»Oh, liebe Schwester«, sagte sie, »ist so eine Musik nicht genauso tröstlich und genauso fromm wie ein Gebet?«
Hélène antwortete nur mit einem Seufzer und einer zärtlichen Umarmung, mit der sie ihre Schwester an ihr Herz drückte.
Es war nicht zu leugnen, dass die Schwestern seit einiger Zeit Gedanken und Gefühle empfanden, die sie sich nicht erklären konnten.
So vergingen die Tage, als hätten die jungen Leute kein Zeitgefühl.
Eines Morgens rief der Mann im Ausguck: »Land in Sicht!« Wenn Renés Berechnungen zutrafen, musste es sich dabei um Birma handeln. Er rechnete nochmals, und das Ergebnis bestätigte die Vermutung.
Kernoch sah den Rechenkunststücken zu, ohne das Geringste davon zu verstehen; er fragte sich, wie jemand wie René, der noch nie auf einem Schiff gefahren war, eine so schwierige Arbeit so selbstverständlich verrichten konnte, eine Arbeit, die er, Kernoch, niemals hätte meistern können.
Man setzte Segel und nahm Kurs auf die Mündung des Flusses Pegu. Die Küste war so niedrig, dass sie von der Meeresoberfläche kaum zu unterscheiden war.
Bei dem Ruf »Land!« waren die beiden Schwestern an Deck gekommen, wo sie René mit dem Fernglas in der Hand vorfanden; er reichte ihnen das Glas, doch da sie es nicht gewohnt waren, den Meereshorizont zu betrachten, sahen sie anfangs nichts als die unendliche Weite des Ozeans. Doch je näher sie der Küste kamen, umso deutlicher tauchten wie Inseln Berggipfel auf, die in der klaren Luft noch aus größter Ferne erkennbar waren.
Das Schiff setzte am Großmast eine neue Flagge und gab zwölf Kanonenschüsse ab, die von der Kanone des Forts sogleich erwidert wurden. Dann bat Kernoch um einen Lotsen. Bald darauf sah man aus dem Fluss von Rangun ein kleines Schiff kommen, das den gewünschten Mann brachte. Er begab sich an Bord. Auf die Frage, welche Sprache er spreche, erwiderte er, er stamme weder aus Pegu noch aus Malakka, sondern aus Chiang Saen, und um dem König von Siam nicht tributpflichtig zu sein, habe er sich nach Rangun abgesetzt und sich dort zum Lotsen ausgebildet; da er ein wenig Englisch radebrechte, konnte René ihn so weit ausfragen. Renés erste Frage hatte der Schiffbarkeit des Flusses Pegu gegolten,
denn die Runner of New York hatte einen Tiefgang von neun bis zehn Fuß.
Der Lotse mit Namen Baba erklärte, der Fluss sei etwa zwanzig Meilen weit befahrbar, ungefähr bis zu einer Siedlung, die einem
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