Der Greifenmagier 2 - Land des Feuers
schon, welche.«
»Oh.« Tehre versuchte zu erkennen, ob das wirklich sinnvoll wäre, gab aber fast sofort wieder auf. Materialien und Mathematik waren viel weniger kompliziert, als zu entschlüsseln, was andere Menschen dachten. Im Grunde schienen sie nur selten überhaupt zu denken, was wahrscheinlich einen Teil des Problems bildete. »Na ja, wenn du meinst«, erklärte sie schließlich. Und da alle zufrieden schienen, nach Norden zu reisen, widmete sie sich wieder dem Skizzieren von Brücken. Aber selbst während Bauten aus Eisen und Gestein aus ihrer Feder flossen, flogen Greifen weiter durch den Hintergrund ihrer Gedanken.
Am nächsten Morgen ging es jedoch nicht weiter nach Norden. Tehre war in der Nacht lange aufgeblieben und hatte bei Kerzenlicht Skizzen angefertigt. Sie stellte fest, dass Greifen sich in die Skizzen schlichen und über den Klippen, Schluchten und Brücken, die aus der Feder flossen, hinwegschwebten und durch sie und unter ihnen hindurchflogen. Die Grimmigkeit der Berge, die Tehre zeichnete, und die Grimmigkeit der Greifen befruchteten sich gegenseitig; und so stellte sie manchmal fest, dass sie zwar eine schartige Klippenkante hatte zeichnen wollen, stattdessen aber den grausamen Schwung eines Schnabels oder die scharfkantigen Umrisse einer Schwinge oder die straffe Wölbung eines Muskels unter dem Löwenfell skizzierte.
Als sie die Kerzen ausblies und durch die Dunkelheit zu dem Bett tappte, das sie mit Mairin teilte, schien das Glimmen des Feuers unmittelbar außerhalb des Blickfelds zu verweilen, wie im grimmigen Auge eines Greifen gespiegelt. Als Tehre endlich einschlief, träumte sie von Greifen, die hoch über Breidechboda ihre Kreise zogen, während Feuer aus dem Wind unter ihren Schwingen regnete ... Sie murmelte im Schlaf und erwachte beinahe wieder in der Dunkelheit.
»Meine Dame ... du träumst«, flüsterte Mairin schläfrig und tätschelte ihr den Arm. »Schlaf weiter.«
»Wo sind wir?«, erkundigte sich Tehre, die Augen noch erfüllt von Feuerträumen und froh darüber, dass sie die Frage diesem praktischen und vernünftigen Mädchen stellen konnte.
»In Dachseit. Erinnerst du dich? Der Gasthof in Dachseit.«
»Oh«, sagte Tehre unbestimmt. Sie erinnerte sich nicht wirklich, war aber bereit, Mairins Worten zu vertrauen. Sie schloss wieder die Augen und legte den Kopf aufs Kissen, und falls sie danach wieder träumte, so erinnerte sie sich später nicht daran.
Am Morgen fühlte sich Tehre genau so, als wäre sie lange aufgeblieben und hätte zu viele seltsame Träume gehabt. Ihre Augen fühlten sich sandig an, und die einsetzenden Kopfschmerzen, die sie am Abend zuvor ignoriert hatte, waren in den Hinterkopf gewandert und hatten es sich dort bequem gemacht. Sie wünschte sich ein ausgiebiges Bad und mehrere Tassen heißen, bitteren Tee, um sich dann in ihrem eigenen Zimmer wieder ins Bett zu legen. Was sie erhalten würde, das waren ein kaltes Becken, um sich das Gesicht zu waschen, ein zerknittertes Reisekleid und eine lange, holprige Kutschfahrt, die den ganzen Tag in Anspruch nahm. Sie seufzte. Wenigstens den Tee sollte es geben.
Sie und Mairin wuschen sich mit dem kalten Wasser die Gesichter, halfen sich gegenseitig beim Anziehen, traten auf den Flur hinaus und fanden die Tür von Sicheirs Zimmer schon geöffnet. Sicheir saß in seinem Zimmer auf dem Bett und studierte stirnrunzelnd die Skizze der Hängebrücke, die Tehre für ihn gezeichnet hatte. Er sprang auf, als die beiden Frauen hereinspähten.
»Du bist auf! Gut!«, sagte er ungeduldig, als hätte sie sehr lange geschlafen.
»Es ist gerade erst hell geworden!«, protestierte Tehre. »Falls du sehr früh aufbrechen wolltest, hättest du es ja sagen können. Wer weiß, ob Fürst Bertaud überhaupt schon aufgestanden ist?«
Mairin schlich weiter und klopfte sachte an Fürst Bertauds Tür. Der Fürst öffnete einen Augenblick später und sah genau so aus, fand Tehre, wie sie selbst sich fühlte: müde und mit Kopfschmerzen und einem Gesichtsausdruck wie nach einem unruhigen, von ungewöhnlichen Träumen geplagten Schlaf. Sein Lächeln fiel im Grunde mehr wie eine Grimasse aus.
»Meine Dame Tehre«, sagte er, als er zu ihr trat. Sein Blick wanderte zu Sicheir; er zögerte einen Augenblick lang und wandte sich erneut Tehre zu. »Ich bin wegen des Greifen besorgt, den wir gesehen haben. Ich mache mir Sorgen, was vielleicht im Norden Eures Landes geschieht. Wir müssen miteinander reden.«
»Ja«, pflichtete
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