Der große Stier
zusammengewunden, daß es wie poliert wirkte; ihre Augen waren ruhig und dunkel, sie blinzelten nicht, als sie Mund und Nase hinter ihrem ausgebreiteten weißen Fächer verbarg.
Als Paul auf sie zu ging, konnte er in ihrem weißen Brokatkleid metallisch goldene Fäden entdecken. Als er sie anredete, wandte sie den Kopf ein ganz klein wenig und sah ihm starr direkt in die Augen. »Verzeihung«, sagte er, »ich bin Paul Odeon.«
Sie sah ihn starr an.
»Ich komme wegen … Richard Stier.«
Sie sah ihn starr an.
»Magdelaine hat mir gesagt, wo ich Siefinden könnte.«
Sie lächelte.
»Sollen wir anderswo hingehen und miteinander reden?«
»Nix verstehn.«
»Ehern … Sie sind Mrs. Chen?«
»Nix sprechen.«
»Sie sind nicht Mrs. Chen?«
»Mrs. Chen da …« Sie zeigte mit ihrem Fächer auf das tanzende Mädchen in dem kurzen weißen Kleid. Wie auf Befehl verstummte die Musik.
»Verzeihung, ich hatte gedacht, Sie seien ...«, Paul zuckte die Achseln, »Mrs. Chen.« Er widerstand der Versuchung, sich zu verbeugen, wandte sich um und eilte über die Tanzfläche. Er hatte Mrs. Chen gerade erreicht, als das kleine Orchester in eine wilde Fassung von Stier Nr. 3 ausbrach.
»Mrs. Chen?«
Das Mädchen strich sich die Haare aus der Stirn und sah zu ihm auf.
»Mein Name ist Paul Odeon.«
»Mr. Odeon. Gut. Es ist Mittag.«
Paul sah auf seine Uhr. »Mittag. Ganz recht. Es ist zweifellos Mittag.«
»Folgen Sie mir bitte.« Ihr ganzer Körper war feucht von Schweiß, ihr Seidenkleid legte sich eng an ihre Beine an, als sie ihn eine kurze Treppe hinauf in den hinteren Teil eines kleinen Studio-Apartments führte.
»Bitte warten Sie hier.« Sie ließ Paul mitten im Zimmer stehen und verschwand hinter einem dreiteiligen Wandschirm.
Bis auf einen kleinen Tisch und zwei Stühle am Fenster war der Raum kahl. Es war noch ein Bücherregal eingebaut, dicht gefüllt mit Büchern, die in Leder eingebunden waren, alle in chinesischer Sprache. Paul steckte sich eine Zigarette an und sah aus dem Fenster; zu seiner Überraschung blickte er direkt hinunter auf einen vollendeten steinernen Springbrunnen im Mittelpunkt eines von Bäumen umgebenen Innenhofes.
»Ich dachte, wir wären unten«, redete Paul den Wandschirm an. »Es scheint, daß wir im zweiten Stockwerk sind.«
»Das täuscht. Dies Gebäude steht auf einem Abhang.«
»Wohnen Sie schon lange hier?«
»Stier hat es für mich gemietet.«
»Und … Mr. Chen?«
»Es sind nicht viele Möbel hier. Ich halte den Raum frei, damit ich Tanzen üben kann.«
Paul schlenderte zu den Büchern hinüber und warf einen Seitenblick auf die chinesischen Zeichen. Mrs. Chen hatte wie Magdelaine ein Talent dafür, auf Fragen zu antworten und sie dabei nicht zu beantworten.
»Jetzt können wir diskutieren«, sagte Mrs. Chen und kam hinter dem Wandschirm hervor. Sie hatte einen weißen Pyjama an, wie eine Judo-Uniform zugeschnitten, und winzige weiße, gestickte Hausschuhe.
»Haben Sie eine Vorliebe für Weiß, Mrs. Chen?«
»Es ist eine Farbe, die Stier gefällt.«
»Allerdings.«
»Setzen Sie sich bitte hier an den Tisch.«
»Machen Sie es beruflich?« Paul hielt die gewölbte Hand unter die länger werdende Zigarettenasche. »Ich meine, ob Sie von Beruf Tänzerin sind.«
»Ich tanze für Stier. In Iliyu .«
»Wo ist Stier eigentlich?« Er setzte sich an den Tisch und begrub seine Zigarette in einer kleinen Scha le; er hoffte, daß es ein Aschenbecher war.
»Er hat etwas für Sie hinterlassen. Ich will es ho len.« Sie langte hinter die untere Buchreihe in dem Bücherregal und zog einen dicken weißen Umschlag hervor. »Hier … machen Sie es auf.«
Paul riß eine Seite auf und schüttelte sechs Blocks Blankoschecks heraus. Sie trugen alle den Stempel der Royal Bank of Canada und jeder war mit »Richard Stier« unterzeichnet.
»Auf diesen Schecks sind keine Geldbeträge eingetragen«, sagte Paul. »Ich könnte ja jeden beliebigen Betrag darauf schreiben.«
»Genau das sollen Sie tun. Die Schecks werden Ihre Ausgaben decken und das Gehalt, das Sie sich selbst auszahlen möchten. Und vielleicht müssen Sie auch die Kosten für die Veröffentlichung Ihres Buches bezahlen.«
»Meines Buches?«
»Ihrer Erläuterung zu Iliyu .«
»Ich verstehe.« Paul durchblätterte die Scheckhefte. »Jedenfalls glaube ich, daß ich es verstehe.«
»Können wir mit Ihrem zweiten Adventus fortfahren?«
»Adventus. Das ist das gleiche Wort, das Magdelaine gebraucht hat. Was bedeutet es
Weitere Kostenlose Bücher