Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
verteidigen. Es gab viele Gründe, warum ich bereute, mich auf Heroin eingelassen zu haben, aber dass ich vor meinem Bruder meine Glaubwürdigkeit verloren hatte, bedauerte ich am meisten.
»Lass uns einen Spaziergang machen«, sagte er.
»Wie spät ist es?«, fragte ich.
»Wen juckt das?«
Wir gingen auf dem Weg zurück, vorbei an den stillen Zelten und Autos, dann die Zufahrt hinunter zu der Schotterstraße, die an unserem Haus vorbeiführte. Das weiche Licht hatte einen leichten Rosahauch und war so schön, dass ich meine Müdigkeit vergaß. Ohne ein Wort zu wechseln, gingen wir das kurze Stück die Straße hinunter zu dem verlassenen Haus auf der anderen Seite der Zufahrt. Als Kinder waren wir dort häufig hingegangen, wenn wir uns an langen heißen Sommertagen langweilten und nicht mit dem Auto wegfahren konnten, weil wir noch zu jung waren. Das Haus war damals schon unbewohnt und baufällig gewesen. Jetzt war es noch heruntergekommener.
»Ich glaube, sie hieß Violet, die Frau, die hier wohnte«, sagte ich zu meinem Bruder, als wir die Veranda erklommen, und dachte an die Geschichten, die ich vor langer Zeit von den alten Finnen über das Haus gehört hatte. Die Haustür war nie verschlossen gewesen und war es noch immer nicht. Wir stießen sie auf und gingen hinein, indem wir über die Löcher im Fußboden stiegen, die fehlende Dielen hinterlassen hatten. Erstaunlicherweise waren dieselben Gegenstände, die schon vor zwölf Jahren im Haus herumgestanden oder -gelegen hatten, immer noch da, nur dass sie jetzt noch mitgenommener aussahen. Ich nahm eine vergilbte Zeitschrift in die Hand. Sie war von der Kommunistischen Partei Minnesotas herausgegeben und datierte aus dem Jahr 1920. Eine angeschlagene Teetasse mit rosa Rosenmuster lag auf der Seite, und ich stellte sie richtig hin. Das Haus war so klein, dass man nur ein paar Schritte zu tun brauchte, um alles zu sehen. Ich ging nach hinten zu der Holztür, die schief an einer Angel hing. In der oberen Hälfte saß eine völlig intakte Glasscheibe.
»Nicht anfassen«, flüsterte Leif. »Schlechtes Karma, wenn sie zu Bruch geht.«
Wir gingen vorsichtig an ihr vorbei in die Küche. Überall Risse und Löcher und dort, wo der Herd gestanden hatte, ein großer schwarzer Fleck. In der Ecke ein kleiner Holztisch, dem ein Bein fehlte. »Würdest du da vielleicht deinen Namen hineinschnitzen?«, brauste ich plötzlich auf und deutete auf den Tisch.
»Lass das«, sagte Leif, packte mich an der Schulter und schüttelte mich. »Vergiss es einfach, Cheryl. Das ist die Realität. Und mit der Realität müssen wir uns abfinden, ob uns das passt oder nicht.«
Ich nickte, und er ließ mich los. Wir standen nebeneinander da und schauten aus dem Fenster in den Garten. Ein verfallener Schuppen, der früher als Sauna gedient hatte, und ein Trog, der jetzt von Unkraut und Moos überwuchert war. Dahinter eine breite, morastige Wiese und noch weiter dahinter ein Birkenhain, an den sich, wie wir wussten, ein Sumpf anschloss, den wir jetzt aber nicht sehen konnten.
»Natürlich würde ich nie etwas in diesen Tisch schnitzen, und du auch nicht«, sagte Leif nach einer Weile und sah mich an. »Weißt du, warum?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich die Antwort wusste.
»Weil wir von Mom erzogen worden sind.«
Ich wanderte bei Tagesanbruch von meinem Lagerplatz auf der abgeholzten Fläche los und sah den ganzen Vormittag keinen Menschen. Gegen Mittag sah ich nicht einmal mehr den PCT. Ich hatte mich zwischen all den Holzabfällen und den provisorischen Waldwegen, die ihn kreuzten und schließlich unkenntlich machten, verlaufen. Zunächst war ich nicht sonderlich beunruhigt, da ich glaubte, der gewundene Waldweg, dem ich folgte, würde irgendwann wieder auf den Trail stoßen, aber das tat er nicht. Ich zückte Karte und Kompass und bestimmte meinen Standort. Oder was ich für meinen Standort hielt – mein Orientierungsvermögen war immer noch nicht das beste. Ich folgte einem anderen Waldweg und dann wieder einem anderen, bis ich nicht mehr wusste, auf welchem ich zuvor marschiert war.
In der Nachmittagshitze machte ich Halt, um etwas zu essen, da ich einen Bärenhunger hatte, wobei mir allerdings die unangenehme Erkenntnis, dass ich nicht wusste, wo ich war, ein wenig den Appetit verdarb. Ich machte mir schwere Vorwürfe, weil ich so sorglos gewesen und in meinem Ärger einfach weitermarschiert war, statt stehen zu bleiben und mir in Ruhe zu überlegen, welche
Weitere Kostenlose Bücher