Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
glaubte, dass es vor Zerstörung gefeit war. Doch ich hatte nicht nur Sehnsucht nach ihnen, ich hegte auch einen bitteren Groll gegen sie, gegen jeden Einzelnen von ihnen. Ich stellte mir vor, wie eine große Maschine gleich der, die diesen Wald verschlungen hatte, auch unsere sechzehn Hektar Land in den Wäldern Minnesotas verschlang. Ich wünschte es mir von ganzem Herzen. Dann, so glaubte ich, würde ich endlich frei sein. Da wir nach dem Tod meiner Mutter nicht vor Zerstörung gefeit gewesen waren, wäre eine vollständige Zerstörung wie eine Erlösung. Der Verlust meiner Familie und meines Zuhauses waren mein persönlicher Kahlschlag. Was blieb, war nur einehässliche Erinnerung an etwas, was es nicht mehr gab.
In der Woche, bevor ich mich zum PCT aufmachte, war ich ein letztes Mal zu Hause gewesen. Ich war nach Norden gefahren, um mich von Eddie zu verabschieden und das Grab meiner Mutter zu besuchen, denn ich wusste, dass ich nach der Wanderung nicht nach Minnesota zurückkehren würde. Ich arbeitete ein letztes Mal in dem Restaurant, in dem ich bediente, und fuhr dann nach Norden, wo ich drei Stunden später um ein Uhr morgens ankam. Ich hatte eigentlich in der Zufahrt parken und hinten auf meinem Pickup schlafen wollen, um niemanden im Haus zu stören, doch als ich eintraf, war eine Party im Gang. Das Haus war hell erleuchtet, und im Garten loderte ein Feuer. Überall standen Zelte, und laute Musik wummerte aus Boxen, die im Gras aufgestellt waren. Es war der Samstag des Memorial-Day-Wochenendes. Ich stieg aus dem Wagen und bahnte mir einen Weg durch Trauben von Menschen, von denen ich die wenigsten kannte. Ich war sprachlos, aber nicht überrascht – weder von der wilden Ausgelassenheit der Party noch von der Tatsache, dass ich nicht eingeladen worden war. Es war nur ein weiterer Beleg dafür, wie gründlich sich die Dinge geändert hatten.
»Cheryl!«, brüllte Leif, als ich in die Garage trat, in der dichtes Gedränge herrschte. »Ich bin auf einem Pilz-Trip«, erklärte er mir fröhlich und quetschte zu fest meinen Arm.
»Wo ist Eddie?«, fragte ich.
»Keine Ahnung, aber ich muss dir was zeigen«, sagte er und zog mich fort. »Das macht dich garantiert wütend.«
Ich folgte ihm durch den Garten und die Eingangstreppe hinauf ins Haus, bis wir vor unserem Küchentisch standen. Es war derselbe, den wir schon in der Tree-Loft-Siedlung gehabt hatten, als wir noch Kinder waren, der, den unsere Mutter für zehn Dollar gekauft hatte und an dem wir an jenem Abend, an dem wir Eddie kennenlernten, gegessen hatten und uns wie Chinesen vorgekommen waren, weil wir auf dem Fußboden saßen. Er war mittlerweile so hoch wie ein normaler Tisch. Als Eddie mit uns in ein normales Haus zog, hatte er die kurzen Beine abgesägt und ein Fass unter die Platte geschraubt, sodass wir all die Jahre auf Stühlen daran gegessen hatten. Der Tisch war nie besonders schön gewesen und war es mit den Jahren immer weniger geworden, hatte Risse bekommen, die Eddie mit Holzkitt zugespachtelt hatte, aber er war unserer gewesen.
Jedenfalls bis zu diesem Abend in der Woche, bevor ich wegging, um auf dem PCT zu wandern.
Jetzt verunzierten frische Schnitzereien die Tischplatte, einzelne Wörter und ganze Sätze, Namen und Initialen von Leuten, die mit Pluszeichen verbunden oder von Herzen umrahmt waren, offensichtlich das Werk der Partygäste. Vor unseren Augen schnitzte ein mir unbekannter Junge im Teenageralter gerade mit einem Taschenmesser etwas in die Platte.
»Lass das«, befahl ich, und er sah mich erschrocken an. »Dieser Tisch ist …« Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Ich drehte mich um und stürzte zur Tür hinaus. Leif rannte hinter mir her, vorbei an den Zelten und dem Lagerfeuer, vorbei an dem Hühnerstall, der jetzt leer war, fort von der Pferdeweide, auf der keine Pferde mehr grasten, und den Weg entlang in den Wald zu dem Pavillon, der dort stand. Ich setzte mich hin und weinte, und mein Bruder blieb schweigend bei mir. Ich war wütend auf Eddie, aber noch wütender auf mich selbst. Ich hatte Kerzen angezündet und mein Tagebuch mit guten Vorsätzen vollgeschrieben. Ich hatte über das Sichabfinden und Dankbarkeit, Schicksal, Vergebung und Glück nachgedacht und war zu vernünftigen Schlüssen gelangt. In einem verbitterten Winkel meines Herzens hatte ich von meiner Mutter losgelassen, hatte ich von meinem Vater und schließlich auch von Eddie losgelassen. Aber der Tisch war etwas anderes. Mir war nie in den
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