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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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Sinn gekommen, dass ich auch von ihm würde loslassen müssen.
    »Ich bin so froh, dass ich aus Minnesota fortgehe«, sagte ich in einem beißenden Ton. »So was von froh.«
    »Ich nicht«, sagte Leif, strich mir kurz über den Hinterkopf und zog die Hand wieder weg.
    »Ich meine damit nicht, dass ich froh darüber bin, dich zu verlassen«, sagte ich und wischte mir Gesicht und Nase ab. »Aber ich sehe dich ja sowieso kaum.« Das stimmte, auch wenn er noch so beteuerte, dass ich der wichtigste Mensch in seinem Leben sei – seine »zweite Mutter«, wie er mich manchmal nannte. Ich sah ihn nur sehr sporadisch. Er war ausweichend und unverbindlich, verantwortungslos und so gut wie nicht zu erreichen. Sein Telefon war ständig ausgestöpselt. Er lebte in einem ständigen Provisorium. »Du kannst mich ja besuchen«, sagte ich.
    »Dich besuchen?«, fragte er. »Wo denn?«
    »Je nachdem, wo ich mich im Herbst entscheide zu leben. Wenn ich mit dem PCT fertig bin.«
    Ich dachte darüber nach, wo ich leben wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo das sein sollte. Es konnte überall sein. Ich wusste nur, dass ich nicht hier in Minnesota leben wollte.
    »Vielleicht in Oregon«, sagte ich zu Leif, und wir schwiegen eine Weile.
    »Der Pavillon ist cool im Dunkeln«, flüsterte er nach ein paar Minuten, und wir schauten uns beide um und betrachteten ihn im schattenhaften Nachtlicht. Paul und ich waren hier getraut worden. Wir hatten den Pavillon eigens für unsere Hochzeit sieben Jahre zuvor mit Unterstützung Eddies und meiner Mutter gebaut. Er war das bescheidene Schloss unserer naiven, unseligen Liebe. Das Dach war aus Wellblech, die Seitenwände aus ungeschliffenem Holz, an dem man sich leicht Splitter einziehen konnte. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde und war mit Steinplatten ausgelegt, die wir mit einer blauen Schubkarre, die meine Familie seit Ewigkeiten besaß, durch den Wald transportiert hatten. Nach meiner Hochzeit wurde der Pavillon zu dem Ort in unserem Wald, den die Leute immer ansteuerten, wenn sie spazieren gingen, und in dem sie zusammenkamen, wenn sie mal zusammenkamen. Als Geschenk für meine Mutter hatte Eddie vor Jahren eine breite Netzhängematte darin aufgehängt.
    »Komm, wir legen uns rein«, sagte Leif und deutete auf die Hängematte. Wir kletterten hinein und schaukelten sachte, indem wir uns mit dem Fuß an ebender Steinplatte abstießen, auf der ich bei der Trauung mit Paul gestanden hatte.
    »Ich bin jetzt geschieden«, sagte ich ohne eine Gefühlsregung.
    »Ich dachte, das wärst du schon längst.«
    »Jetzt ist es offiziell. Wir mussten noch die Unterlagen einreichen. Letzte Woche habe ich den Bescheid bekommen, mit dem Stempel des Gerichts.«
    Er nickte und sagte nichts. Anscheinend hatte er wenig Mitleid mit mir, da ich an der Scheidung selbst schuld war. Er, Eddie und Karen mochten Paul. Ich konnte ihnen nicht begreiflich machen, warum ich meine Ehe an die Wand gefahren hatte. Aber ihr habt doch einen so glücklichen Eindruck gemacht, war alles, was sie dazu sagen konnten. Und es stimmte ja: den Eindruck hatten wir tatsächlich gemacht. So wie ich nach dem Tod meiner Mutter den Eindruck gemacht hatte, ganz gut zurechtzukommen. Trauer hat kein Gesicht.
    Während Leif und ich in der Hängematte schaukelten, erhaschten wir durch die Bäume flüchtige Blicke auf das erleuchtete Haus und das Feuer. Wir hörten die gedämpften Stimmen der Gäste, als die Party langsam zu Ende ging. Das Grab unserer Mutter lag direkt hinter uns, vielleicht dreißig Schritt weiter auf dem Pfad, der am Pavillon vorbei auf die kleine Lichtung führte, auf der wir ein Blumenbeet angelegt, ihre Asche begraben und einen Grabstein aufgestellt hatten. Ich spürte, dass sie bei uns war, und fühlte, dass auch Leif es spürte, aber ich sagte nichts, da ich fürchtete, Worte könnten diese Stimmung zerstören. Ich schlief ein, ohne es zu merken, und wachte auf, als die Sonne am Horizont heraufstieg. Ich sah erschrocken zu Leif, da ich im ersten Moment nicht wusste, wo ich war.
    »Ich bin eingeschlafen«, sagte ich.
    »Ich weiß«, erwiderte er. »Ich war die ganze Zeit wach. Die Pilze.«
    Ich setzte mich in der Hängematte auf und blickte zu ihm nach hinten. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte ich. »Wegen der Drogen, verstehst du.«
    »Das musst ausgerechnet du sagen.«
    »Das war etwas anderes. Das war nur eine Phase, und das weißt du«, sagte ich, wobei ich versuchte, nicht so zu klingen, als wollte ich mich

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