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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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oben. Ich wohne in der anderen Richtung. Ich habe da oben ein Tipi, in dem ich vier bis fünf Monate im Jahr lebe.«
    »Du lebst in einem Tipi?«
    Er nickte. »Ja. Ganz allein. Das gefällt mir, aber manchmal fühlt man sich einsam. Ich heiße übrigens Clyde.« Er streckte mir die Hand hin.
    »Und ich Cheryl«, sagte ich und drückte sie.
    »Hättest du Lust, eine Tasse Tee mit mir zu trinken?«
    »Danke, aber ich warte auf einen Freund, der gleich von der Arbeit kommt.« Ich blickte zur Tür des Clubs, als würde Jonathan jeden Augenblick aus ihr auftauchen.
    »Mein Truck steht gleich da drüben, wir müssten also nirgends hinfahren«, sagte er und deutete auf einen alten Milchlaster auf dem Parkplatz. »In dem wohne ich, wenn ich nicht in meinem Tipi bin. Ich versuche mich seit Jahren als Einsiedler, aber manchmal ist es schön, in die Stadt zu kommen und sich eine Band anzuhören.«
    »Ich weiß, was du meinst«, sagte ich. Mir gefiel seine sanfte Art. Er erinnerte mich an ein paar Männer aus Nord-Minnesota, die ich kannte. Typen, die mit meiner Mutter und Eddie befreundet gewesen waren, immer auf der Suche und offenherzig, klar abseits vom Mainstream. Seit dem Tod meiner Mutter hatte ich kaum noch einen von ihnen gesehen. Jetzt war mir, als hätte ich sie nie gekannt und könnte sie nie wieder kennenlernen. Was dort, wo ich aufgewachsen war, existiert hatte, schien mir jetzt so weit weg, dass ich es unmöglich zurückholen konnte.
    »War schön, dich kennenzulernen, Cheryl«, sagte Clyde. »Ich gehe jetzt meinen Teekessel aufsetzen. Wie gesagt, du darfst mir gern Gesellschaft leisten.«
    »Na schön«, sagte ich sofort. »Eine Tasse trinke ich mit.«
    Ich habe nie einen Wohn-Truck von innen gesehen, der mir nicht wie die coolste Sache der Welt vorgekommen wäre, und Clydes Milchlaster bildete keine Ausnahme. Ordentlich und praktisch, geschmackvoll und geschickt eingerichtet, flippig und zweckmäßig. Es gab einen Holzofen und eine Kochnische, und eine Christbaumkette warf zauberhafte Schatten in den Raum. Drei Wände waren mit Bücherregalen zugestellt, und dazwischen war ein Bett geklemmt. Ich schlüpfte aus meinen neuen Sandalen, legte mich quer aufs Bett und zog Bücher aus dem Regal, während Clyde Teewasser aufsetzte. Er besaß Bücher über das Mönchsdasein und andere über Menschen, die in Höhlen, in der Arktis, im Regenwald Amazoniens oder auf einer Insel vor der Küste des Bundesstaats Washington lebten.
    »Die Kamille habe ich selbst angebaut«, sagte Clyde und goss das Wasser in eine Kanne, sobald es kochte. Während der Tee zog, zündete er ein paar Kerzen an, kam herüber und setzte sich neben mich aufs Bett, auf dem ich bäuchlings lag und, auf die Ellenbogen gestützt, in einem Bildband über Hindu-Götter blätterte.
    »Glaubst du an Reinkarnation?«, fragte ich, als wir uns zusammen die verschlungenen Zeichnungen ansahen und die kurzen Begleittexte auf jeder Seite dazu lasen.
    »Nein«, antwortete er. »Ich glaube, dass wir nur einmal hier sind und dass das, was wir tun, zählt. Was glaubst du?«
    »Ich versuche noch herauszufinden, woran ich glaube«, antwortete ich und nahm den heißen Becher, den er mir hinhielt.
    »Ich habe noch etwas anderes für dich, wenn du magst. Ich habe es im Wald geerntet.« Er zog eine knorrige Wurzel aus der Tasche und hielt sie mir auf der Handfläche hin. Sie sah wie Ingwer aus. »Das ist kaubares Opium.«
    »Opium?«, fragte ich.
    »Ja, aber viel schwächer. Man wird nur leicht high davon und ganz relaxed. Willst du was?«
    »Klar«, sagte ich reflexartig. Er schnitt ein Stück herunter und gab es mir, dann ein zweites, das er sich in den Mund schob.
    »Du kaust es?«, fragte ich, und da er nickte, steckte ich es in den Mund und kaute. Es war, als kaute ich auf Holz. Ich brauchte eine Weile, bis mir dämmerte, dass es vielleicht besser war, von Opium oder irgendeiner Wurzel, die mir ein fremder Mann gab, die Finger zu lassen, ganz gleich wie nett und harmlos er wirkte. Ich spuckte es in meine Hand.
    »Schmeckt dir wohl nicht?«, fragte er lachend und hielt mir einen kleinen Abfalleimer hin, damit ich es hineinwerfen konnte.
    Bis elf blieb ich in Clydes Truck und unterhielt mich mit ihm, dann begleitete er mich zum Eingang des Clubs. »Viel Glück oben in den Wäldern«, sagte er, und wir umarmten uns.
    Gleich darauf tauchte Jonathan auf und brachte mich zu seinem Wagen, einem alten Buick Skylark, den er Beatrice nannte.
    »Wie war die Arbeit?«, fragte ich.

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