Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
nicht enden wollendes Solo. Irgendwann brach das Publikum in begeisterten Beifall aus, und ich hielt es nicht mehr aus und sah wieder hin. Und er sah nicht nur zu mir her, sondern winkte mir auch noch zu.
Ich winkte zurück.
Ich drehte mich weg, stand ganz still und aufrecht da, fühlte mich wie ein begehrenswertes Objekt von bezaubernder Schönheit. Ich spürte Jonathans Blick auf meinem knackigen Hintern und meinen strammen Schenkeln, meinen Brüsten, die unter dem engen T-Shirt von dem sexy BH gestrafft wurden, meinem besonders hellen Haar und meiner bronzefarbenen Haut, meinen blauen Augen, die durch den Plum-Haze-Lippenstift noch blauer wirkten – ein Gefühl, das nur ein Stück lang anhielt und sich dann in sein Gegenteil verkehrte, als ich begriff, dass ich potthässlich war, mit Hüftfleisch, das aussah wie eine Mischung aus Baumrinde und gerupfter Hühnerhaut, und einem zu braunen, wettergegerbten Gesicht und ungepflegten Haaren und einem Bauch, der – trotz aller Strapazen und Entbehrungen und obwohl er zwei Monate lang von den Rucksackgurten zusammengequetscht worden war, was ihn, wie man meinen könnte, zum Verschwinden hätte bringen müssen – immer noch eine unübersehbare Rundung aufwies, außer ich lag auf dem Rücken oder zog ihn ein. Im Profil war meine Nase so markant, dass ich, wie eine Freundin einmal bemerkt hatte, an einen Haifisch erinnerte. Und meine Lippen – meine lächerlich angemalten Lippen! Unauffällig drückte ich mir, während die Musik weiter dudelte, den Handrücken an den Mund, um den Plum Haze wegzuwischen.
Gott sei Dank gab es eine Pause. Wie aus dem Nichts tauchte Jonathan neben mir auf und drückte mir eifrig die Hand. Er freue sich, dass ich gekommen sei, sagte er und fragte, ob ich noch ein Glas Wein wolle.
Ich wollte nicht. Ich wollte nur, dass es endlich elf wurde, damit ich mit ihm weggehen und aufhören konnte, mich zu fragen, ob ich eine attraktive Frau oder eine Vettel war und ob er die ganze Zeit zu mir hersah oder ob er dachte, dass ich die ganze Zeit zu ihm hinsah.
Bis dahin waren es noch eineinhalb Stunden.
»Was sollen wir nachher unternehmen?«, fragte er. »Hast du schon gegessen?«
Ich bejahte und sagte, dass ich aber zu allem bereit sei. Ich erwähnte nicht, dass ich momentan ungefähr viermal hintereinander zu Abend essen konnte.
»Ich wohne auf einer Biofarm etwa fünfundzwanzig Kilometer von hier. Nachts kann man dort toll spazieren gehen. Wir könnten rausfahren, und ich bringe dich zurück, wann du willst.«
»Okay«, sagte ich und schob dabei den kleinen silbernen Ohrstecker mit dem Türkis an seiner dünnen Kette entlang. Die Namenshalskette hatte ich nicht angelegt für den Fall, dass Jonathan Starved statt Strayed las. »Ich glaube, ich brauche jetzt etwas frische Luft«, sagte ich. »Aber um elf bin ich wieder da.«
»Klasse«, sagte er und drückte mir noch mal die Hand, bevor er auf seinen Platz zurückkehrte und die Band weiterspielte.
Ganz hibbelig trat ich in die Nacht hinaus. Der kleine rote Nylonbeutel, in dem normalerweise mein Kocher steckte, baumelte an seiner Schnur an meinem Handgelenk. Die meisten dieser Art hatte ich in Kennedy Meadows zurückgelassen, weil ich keinen unnötigen Ballast mitschleppen wollte, aber diesen Beutel hatte ich behalten, da ich annahm, der Kocher brauche eine Schutzhülle. Für die Tage in Ashland hatte ich ihn in eine Handtasche umfunktioniert, obwohl er leicht nach Benzin roch. Die Sachen darin waren zusätzlich in einer Ziplock-Tüte verstaut, die als unschickes Portemonnaie diente – mein Geld, mein Führerschein, Lippenbalsam, ein Kamm und die Karte, die man mir in der Jugendherberge gegeben hatte, damit ich meinen Rucksack, Skistock und Proviantbeutel aus dem dortigen Abstellraum holen konnte.
»Hallo«, grüßte mich ein Mann, der auf dem Gehweg vor dem Lokal stand. »Gefällt dir die Band?«, fragte er mit ruhiger Stimme.
»Ja.« Ich lächelte ihn höflich an. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig. Er trug Jeans, Hosenträger und ein ausgefranstes T-Shirt. Er hatte einen krausen Bart, der ihm bis auf die Brust fiel, und eine Halbglatze mit einem ergrauenden langen Haarkranz, der ihm bis zu den Schultern reichte.
»Ich bin aus den Bergen«, sagte er. »Von Zeit zu Zeit komme ich gern hierher, um Musik zu hören.«
»Ich auch. Ich meine, ich komme auch aus den Bergen.«
»Wo wohnst du?«
»Ich wandere auf dem Pacific Crest Trail.«
»Ah ja.« Er nickte. »Der PCT. Ich war schon mal
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