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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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gespendet werden kann, gespendet wird«, sagte sie nach einer Weile. »Von meinen Organen, meine ich. Sie sollen alles haben, was sie gebrauchen können.«
    »Okay«, sagte ich. Das Seltsamste an diesen Überlegungen war, dass wir nicht für eine ferne Zukunft planten, und die Vorstellung, dass Teile meiner Mutter im Körper eines anderen Menschen weiterleben sollten. »Aber was dann?«, fragte ich weiter. Ich musste es wissen. An mir würde es hängen bleiben. »Was soll mit dem geschehen, was … was übrig bleibt. Willst du begraben oder eingeäschert werden?«
    »Das ist mir egal. Tu, was du für das Beste hältst. Was am billigsten ist.«
    »Nein«, beharrte ich. »Du musst es mir sagen. Ich möchte wissen, was du willst.« Der Gedanke, dass ich darüber entscheiden sollte, versetzte mich in Panik.
    »Ach, Cheryl«, seufzte sie, meiner überdrüssig, und wir tauschten einen leidvollen Blick und schlossen Frieden. Denn jedes Mal, wenn ich sie am liebsten erwürgt hätte, weil sie zu optimistisch war, hätte auch sie mich am liebsten erwürgt, weil ich partout nicht nachgeben wollte.
    »Verbrennt mich«, sagte sie schließlich. »Äschert mich ein.«
    Und das taten wir, allerdings war ihre Asche nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war nicht wie die Asche eines Holzfeuers, seidig glänzend und fein wie Sand. Sie war wie ein Gemisch aus blassen Steinen und sandhaltigem, grauem Schotter. Einige Klumpen waren sehr groß, und man konnte deutlich sehen, dass es einmal Knochen gewesen waren. Der Kasten, den mir der Mann vom Beerdigungsinstitut aushändigte, war seltsamerweise an meine Mutter adressiert. Ich nahm ihn mit nach Hause und stellte ihn in den Schrank unter dem Kuriositätenkabinett, in dem meine Mutter ihre schönsten Sachen aufbewahrte. Es war Juni. Er blieb dort bis zum 18. August, genau wie der Grabstein, den wir für sie hatten anfertigen lassen und den wir in derselben Woche bekommen hatten wie die Asche. Er stand in einer Ecke im Wohnzimmer. Besuchern bot er wahrscheinlich einen verstörenden Anblick, aber mir war er ein Trost. Der Stein war schiefergrau, die Inschrift weiß. Sie bestand aus ihrem Namen, dem Geburts- und dem Sterbedatum und dem Satz, den sie, als es mit ihr zu Ende ging, immer wieder zu uns gesagt hatte: Ich bin immer bei euch.
    Sie wollte, dass wir uns daran erinnerten, und das tat ich. Es war, als wäre sie immer bei mir, zumindest im übertragenen Sinn – und in gewisser Weise auch im wörtlichen Sinn. Als wir den Grabstein schließlich aufgestellt hatten und ihre Asche in die Erde streuten, verstreute ich nicht die gesamte Asche. Ein paar von den größten Klumpen behielt ich in der Hand. Ich stand eine ganze Weile da, nicht bereit, sie der Erde zu übergeben. Das tat ich damals nicht und auch später nicht.
    Ich schob mir die verbrannten Knochen in den Mund und schluckte sie, so wie sie waren, hinunter.
    Am Abend ihres fünfzigsten Geburtstags liebte ich meine Mutter wieder, aber die Lieder von Judy Collins musste ich weiterhin aus meinem Kopf verbannen, da ich sie immer noch nicht ertragen konnte. Es war kalt, aber nicht so kalt wie in der Nacht zuvor. Ich saß dick eingepackt und mit Handschuhen in meinem Zelt und las die ersten Seiten meines neuen Buchs – The Best American Essays 1991 . Normalerweise wartete ich bis zum nächsten Morgen, ehe ich die Seiten, die ich am Abend gelesen hatte, verbrannte, doch an diesem Abend kroch ich, als ich mit Lesen fertig war, aus dem Zelt und machte mit den gelesenen Seiten ein Feuer. Als sie brannten, sagte ich laut den Namen meiner Mutter, als führte ich eine Zeremonie für sie durch. Sie hieß Barbara, war aber von allen nur Bobbi genannt worden, und so benutzte ich diesen Namen. »Bobbi« statt »Mom« zu sagen war wie eine Erleuchtung, als verstünde ich zum ersten Mal wirklich, dass sie nicht nur meine Mutter gewesen war, sondern mehr. Mit ihrem Tod hatte ich auch dieses Mehr verloren – die Bobbi, die sie gewesen war, die Frau, die nicht eins war mit der, die sie für mich gewesen war. Jetzt schien sie sich mir zu zeigen, in der vollkommenen und unvollkommenen Kraft ihres ganzen Menschseins, als wäre ihr Leben ein kompliziertes Wandgemälde, das ich nun endlich in seiner Ganzheit sehen konnte. Als könnte ich nun sehen, wer sie für mich gewesen war und wer nicht. Sehen, warum sie so untrennbar zu mir gehörte, und auch, warum nicht.
    Bobbis letzter Wunsch, mit ihren Organen anderen Menschen zu helfen, ging nicht in

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