Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
die Nacht dort, duschte genüsslich in den Waschräumen und machte mich am nächsten Morgen auf den Weg zum Crater Lake.
Mein Führer hatte recht gehabt: Mein erster Blick auf den See war unglaublich. Ich stand auf dem 2160 Meter hoch gelegenen felsigen Kraterrand, 270 Meter über der Wasseroberfläche. Das gezackte Rund des Sees lag unter mir und erstrahlte in einem unbeschreiblich reinen Ultramarinblau, wie ich noch keines gesehen hatte. Bis zum gegenüberliegenden Ufer waren es fast zehn Kilometer, und mitten aus dem Blau ragte die Spitze eines kleines Vulkans namens Wizard Island, der sich 200 Meter über das Wasser erhob und eine kegelförmige Insel bildete, auf der krüppelige Fuchsschwanzkiefern wuchsen. Die gleichen Bäume waren da und dort auch auf dem sonst kahlen, welligen Kraterrand zu sehen, der den See umschloss und sich von den Bergen in der Ferne abhob.
»Weil der See so klar und tief ist, absorbiert er alle Farben des sichtbaren Lichts außer Blau, darum erscheint er uns in einem reinen Blau«, sagte eine neben mir stehende Fremde und beantwortete damit die Frage, die ich vor Verwunderung beinahe laut gestellt hätte.
»Danke«, sagte ich zu ihr. Weil das Wasser so tief und klar war, absorbierte es alle Farben des sichtbaren Lichts außer Blau – das klang nach einer perfekten wissenschaftlichen Erklärung, und doch hatte der Crater Lake etwas, was unerklärlich blieb. Beim Stamm der Klamath gilt der See immer noch als heilige Stätte, und ich konnte nachempfinden, warum. Diesmal blieb die Skeptikerin in mir stumm. Es störte mich auch nicht, dass um mich herum Touristen Fotos schossen und langsam in ihren Autos vorbeifuhren. Ich konnte die Kraft des Sees spüren. Er wirkte auf mich wie ein Schock inmitten dieses großen Lands: unverletzlich,abgesondertund allein, als wäre er immer schon hier gewesen und würde immer hier bleiben und alle Farben des sichtbaren Lichts außer Blau absorbieren.
Ich machte ein paar Fotos und ging am Rand des Sees entlang zu einer kleinen Ansammlung von Gebäuden, die touristische Einrichtungen beherbergten. Ich musste notgedrungen den Tag hier verbringen, da heute, am Sonntag, die Poststelle des Parks geschlossen war und ich mein Versorgungspaket folglich erst morgen abholen konnte. Es war sonnig und endlich wieder warm geworden, und im Gehen musste ich plötzlich daran denken, dass ich ungefähr jetzt ein Kind zur Welt gebracht hätte, wenn ich die Schwangerschaft nicht abgebrochen hätte, von der ich an jenem Abend in Sioux Falls, bevor ich mich zu der Wanderung auf dem PCT entschloss, erfahren hatte. Der voraussichtliche Geburtstermin wäre genau in die Woche gefallen, in der meine Mutter Geburtstag hatte. Damals versetzte mir dieses zeitliche Zusammentreffen einen Stich, aber ich ließ mich davon in meinem Entschluss zu einem Schwangerschaftsabbruch nicht beirren. Ich betete nur darum, dass ich später noch einmal eine Chance bekam. Und dass ich die Frau wurde, die ich sein musste, bevor ich ein Kind bekam: eine Frau, deren Leben sich grundlegend von dem meiner Mutter unterschied.
Sosehr ich meine Mutter auch liebte und bewunderte, so wollte ich doch nie so werden wie sie, nicht einmal als Kind. Ich wusste, warum sie mit neunzehn meinen Vater geheiratet hatte, obwohl sie ihn nicht sehr liebte. Dies war eine der Geschichten, die sie mir erzählte, weil ich immer wieder danach fragte. Anfangs schüttelte sie nur den Kopf und sagte: »Warum willst du das denn wissen?« Aber ich ließ ihr keine Ruhe, bis sie irgendwann nachgab und es mir erzählte. Als sie erfuhr, dass sie von meinem Vater schwanger war, zog sie zwei Möglichkeiten in Betracht: entweder in Denver eine illegale Abtreibung vornehmen lassen oder sich in einer fremden Stadt verstecken, dort das Kind zur Welt bringen und dann in die Obhut ihrer Mutter geben, die sich erboten hatte, es wie ihr eigenes großzuziehen. Doch am Ende tat sie weder das eine noch das andere. Sie entschied sich dafür, das Kind zu bekommen, und heiratete meinen Dad. Sie brachte Karen auf die Welt, dann mich und dann Leif.
Uns.
»Ich habe nie selbst am Steuer meines Lebens gesessen«, hatte sie mir einmal weinend geklagt, nachdem sie erfahren hatte, dass sie sterben würde. »Ich habe immer nur getan, was andere von mir wollten. Ich war immer jemandes Tochter, Mutter oder Frau. Ich bin nie einfach nur ich gewesen.«
»Ach, Mom«, war alles, was ich dazu sagen konnte, während ich ihre Hand streichelte.
Ich war zu jung, um
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