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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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Erfüllung, jedenfalls nicht in dem Umfang, wie sie es sich erhofft hatte. Als sie starb, war ihr Körper vom Krebs verwüstet und vom Morphium vergiftet. Am Ende konnte man nur die Hornhaut, die Kornea, ihrer Augen verwenden. Ich wusste, dass die Kornea nur die klare Außenhaut des Auges war, aber wenn ich an das gespendete Organ meiner Mutter dachte, stellte ich mir etwas anderes vor. Ich dachte, dass ihre verblüffend blauen Augen im Gesicht eines anderen Menschen weiterlebten. Ein paar Monate nach ihrem Tod erhielten wir von der Stiftung, die die Spende vermittelt hatte, ein Dankschreiben. Durch ihre Großzügigkeit, so hieß es darin, habe meine Mutter einem Menschen das Augenlicht gerettet. Ich war wie besessen von dem Wunsch, dieser Person in die Augen zu sehen. Sie hätte kein Wort zu sagen brauchen. Ich wollte nur, dass sie mich ansah. Ich rief die im Brief angegebene Telefonnummer an und erkundigte mich nach der Person, erhielt aber eine Abfuhr. Die Schweigepflicht sei von größter Wichtigkeit, wurde mir mitgeteilt. Der Empfänger habe gewisse Rechte.
    »Ich bin gern bereit, Ihnen Näheres über die Art der Spende Ihrer Mutter zu sagen«, antwortete mir die Frau am Telefon mit einer geduldigen und tröstenden Stimme, die mich an all die Trauerbegleiter, Hospizfreiwilligen, Krankenschwestern, Ärzte und Bestatter erinnerte, mit denen ich in den Wochen, in denen meine Mutter im Sterben lag, und in den Tagen nach ihrem Tod gesprochen hatte – eine Stimme, in der ein bemühtes, fast übertriebenes Mitgefühl zum Ausdruck kam und die mir gerade dadurch zu Bewusstsein brachte, dass ich in dieser Sache auf mich allein gestellt war. »Man hat nicht das ganze Auge transplantiert«, erklärte die Frau, »sondern nur die Kornea. Das ist …«
    »Ich weiß, was die Kornea ist«, fiel ich ihr ins Wort. »Ich würde trotzdem gern wissen, wer diese Person ist. Und sie sehen, wenn das möglich ist. Ich finde, das sind Sie mir schuldig.«
    Überwältigt vor Trauer legte ich auf, aber mein letzter Rest Verstand sagte mir, dass die Frau recht hatte. Meine Mutter war nicht mehr da. Ihre blauen Augen waren fort. Ich würde sie nie wieder sehen.
    Als ich die Seiten verbrannt hatte und die letzten Flammen erloschen waren, stand ich auf, um ins Zelt zurückzukehren. Da vernahm ich im Osten ein schrilles und wildes Bellen und Heulen – ein Rudel Kojoten. Im Norden Minnesotas hatte ich so etwas schon so oft gehört, dass es mir keinen Schrecken einjagte. Es erinnerte mich an zu Hause. Ich blickte zum Himmel, der übersät war mit Sternen, die herrlich in der Dunkelheit funkelten. Ich erschauerte, denn ich erkannte, dass ich mich glücklich schätzen konnte, jetzt hier zu sein, und dass der Himmel zu schön war, um mich gleich wieder im Zelt zu verkriechen. Wo würde ich in einem Monat sein? Dass ich dann nicht mehr auf dem Trail sein sollte, erschien mir unvorstellbar, und doch war es wahr. Höchstwahrscheinlich würde ich in Portland sein, und sei es auch nur aus dem einen Grund, dass ich abgebrannt war. Ich besaß zwar noch etwas von dem Geld aus Ashland, aber bis ich die Brücke der Götter erreichte, würde auch davon nichts mehr übrig sein.
    Gedanken an Portland gingen mir im Kopf herum, als ich in den folgenden Tagen die Sky Lakes Wilderness hinter mir ließ und in die Oregon Desert vorstieß, eine staubige, mit Küstenkiefern bewachsene Hochfläche, die nach Auskunft meines Wanderführers einst mit Seen und Bächen übersät war, bevor bei der gewaltigen Eruption des Mount Mazama alles unter Tonnen von Asche und Bimsstein begraben wurde. Es war noch früh, als ich am Sonntag den Crater Lake National Park erreichte. Den See selbst konnte ich noch nicht sehen, denn ich befand mich auf dem Campingplatz elf Kilometer südlich des Kraterrands.
    Der Campingplatz war kein gewöhnlicher Campingplatz. Er war ein wuseliges Touristendorf mit einem großen Parkplatz, einem Laden, einem Motel, einem kleinen Münzwaschsalon und ungefähr dreihundert Leuten, die die Motoren ihrer Autos aufheulen und ihre Radios plärren ließen, mit Strohhalmen aus riesigen Pappbechern schlürften und Chips aus großen Tüten mampften, die sie im Laden gekauft hatten. Ich war davon gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen. Hätte ich es nicht aus eigener Erfahrung gewusst, so hätte ich nicht für möglich gehalten, dass ich nur ein paar hundert Meter in jede beliebige Richtung zu gehen brauchte, um in eine ganz andere Welt zu gelangen. Ich verbrachte

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