Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
etwas anderes zu sagen.
Gegen Mittag aß ich in der Cafeteria, die in einem der Gebäude untergebracht war. Anschließend ging ich über den Parkplatz zur Crater Lake Lodge und spazierte mit dem Monster auf dem Rücken durch die vornehm rustikale Lobby, wobei ich kurz stehen blieb und einen Blick in den Speiseraum warf. Ein paar vereinzelte, gut gekleidete Leute saßen an Tischen und hielten Gläser mit Chardonnay und Grauburgunder, die funkelten wie blassgelbe Edelsteine. Ich trat hinaus auf die lang gestreckte Terrasse mit Blick auf den See, ging an einer Reihe großer Schaukelstühle entlang und fand einen, der etwas abseits stand.
Ich setzte mich hinein, blieb den Rest des Nachmittags dort sitzen und blickte auf den See. Ich hatte noch 534 Kilometer bis zur Brücke der Götter zu wandern, aber irgendwie war mir, als wäre ich schon angekommen. Als hätte mir das blaue Wasser etwas zu sagen, um dessentwillen ich den weiten Weg hierher gekommen war.
Hier erhob sich einst der Mount Mazama, rief ich mir unablässig in Erinnerung. Hier stand einst ein Berg, der fast 3700 Meter emporragte und dem dann das Herz herausgerissen wurde. Hier war einst eine Wüste aus Lava, Bimsstein und Asche. Hier war einst ein leerer Kessel, der Jahrhunderte brauchte, um sich mit Wasser zu füllen. Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte mir nichts davon vor mein geistiges Auge rufen. Weder den Berg noch die Wüste, noch den leeren Kessel. Sie waren einfach nicht mehr da. Da war nur die Ruhe und Stille dieses Wassers: das, in was sich ein Berg, eine Wüste und ein leerer Kessel nach Einsetzen des Heilungsprozesses verwandelt hatten.
17 –
Auf Sparflamme
Oregon war für mich wie das Hüpfspiel »Himmel und Hölle«. In meiner Vorstellung legte ich die gesamte Strecke vom Crater Lake bis zur Brücke der Götter von einem Feld zum anderen hüpfend zurück. Hundertsechsunddreißig Kilometer bis zu meinem nächsten Versorgungspunkt, das Shelter Cove Resort. Dann zweihundert achtundzwanzig Kilometer bis zu meinem letzten Versorgungspunkt am Olallie Lake. Und schließlich die Zielgerade zum Columbia River: nochmals hundertsiebzig Kilometer bis zu der Ortschaft Cascade Locks, mit einem Zwischenstopp nach halber Strecke in der Timberline Lodge am Mount Hood auf einen Drink nach dem Motto »Heilige Scheiße, ich kann es einfach nicht fassen, dass ich fast da bin«.
Aber das waren zusammen immer noch 534 Kilometer, die ich zu bewältigen hatte.
Die angenehme Seite war, dass es, ganz gleich was auf diesen 534 Kilometern passierte, unterwegs immer frische Beeren geben würde, wie ich bald begriff. Heidelbeeren, Himbeeren und Brombeeren, die prall und saftig am Wegrand hingen und nur darauf warteten, gepflückt zu werden. Ich zupfte sie im Gehen von den Sträuchern, während ich gemächlich die Mount Thielsen Wilderness und Diamond Peak Wilderness durchquerte, und manchmal blieb ich sogar stehen und füllte meinen Hut.
Es war kalt. Es war heiß. Die Schwielen an meinen Hüften bekamen eine neue Schicht. An den Füßen hatte ich zwar keine Blasen oder wunden Stellen mehr, aber sie taten immer noch höllisch weh. In der Hoffnung, die Schmerzen zu lindern, legte ich ein paar Halbtagsschichten ein und wanderte nur elf oder zwölf Kilometer am Tag, aber das half wenig. Sie taten von innen heraus weh. Manchmal hatte ich beim Gehen das Gefühl, als ob sie gebrochen wären und eigentlich in Gips statt in Stiefel gehörten. Als ob sie bei den vielen Märschen mit schwerem Gepäck durch schwieriges Gelände einen bleibenden Schaden davongetragen hätten. Und gleichwohl war ich so stark wie noch nie. Selbst mit diesem Ungetüm von Rucksack auf dem Rücken konnte ich mittlerweile gewaltige Strecken zurücklegen, auch wenn ich am Abend nach wie vor ziemlich kaputt war.
Das Wandern auf dem PCT fiel mir jetzt leichter, aber leichter war nicht gleichbedeutend mit leicht.
Es gab schöne Vormittage und herrliche Nachmittage, Fünfzehn-Kilometer-Abschnitte, über die ich förmlich hinwegschwebte, ohne viel zu spüren. Ich liebte es, mich im Rhythmus meiner Schritte und im Klicken meines Skistocks zu verlieren, in der Stille, den Liedern und Sätzen in meinem Kopf. Ich liebte die Berge und die Felsen, die Hirsche und die Kaninchen, die unter die Bäume flüchteten, die Käfer und Frösche, die über den Pfad krabbelten. Aber jeden Tag gelangte ich irgendwann an den Punkt, an dem ich das alles nicht mehr liebte, an dem es eintönig und mühselig wurde,
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