Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Barbaren. In einer fünfzehnminütigen Pause verdrückten sie pro Nase drei Snickers, obwohl jeder dünn wie ein Stecken war. Wenn sie die Hemden auszogen, konnte ich ihre Rippen zählen. Auch ich hatte Gewicht verloren, aber nicht so viel wie die Männer – eine Ungerechtigkeit, die ich praktisch bei allen männlichen und weiblichen Hikern, denen ich in diesem Sommer begegnet war, beobachtet hatte. Doch inzwischen war es mir ziemlich egal, ob ich dick oder dünn war. Mich interessierte nur, wie ich an mehr zu essen kam. Auch ich war eine Barbarin, mein Appetit gewaltig und unersättlich. Mittlerweile war ich schon so weit, dass ich, wenn eine Figur in dem Roman, den ich gerade las, zufällig etwas aß, die Stelle überspringen musste, weil ich es einfach nicht ertrug, von etwas zu lesen, was ich mir selber wünschte und nicht bekommen konnte.
Am späten Nachmittag verabschiedete ich mich an der Stelle, die ich mir als Lagerplatz auserkoren hatte, von den drei jungen Draufgängern. Sie wollten noch ein paar Kilometer abspulen, denn sie waren nicht nur unglaubliche Wandermaschinen, sondern brannten auch darauf, möglichst bald den Santiam Pass zu erreichen, wo sie den Trail für ein paar Tage verlassen wollten, um Freunde und Verwandte zu besuchen. Während sie dort einen drauf machten, duschten, in richtigen Betten schliefen und Berge von Essen in sich hineinstopften, die ich mir lieber nicht vorstellen wollte, würde ich mir wieder einen Vorsprung herausarbeiten, sodass sie sich von Neuem an meine Fersen hängen mussten.
»Fangt mich, wenn ihr könnt«, sagte ich in der Hoffnung, dass sie konnten, denn es stimmte mich traurig, dass sich unsere Wege schon wieder trennten. Am Abend kampierte ich allein an einem Teich. Immer noch selig, sie getroffen zu haben, dachte ich an die Geschichten, die sie mir erzählt hatten, während ich mir nach dem Essen die Füße massierte. Wieder löste sich ein schwarzer Fußnagel vom Zeh. Ich zog kurz daran, und er ging vollends ab. Ich warf ihn ins Gras.
Zwischen dem PCT und mir stand es jetzt unentschieden 5:5.
Ich saß in meinem Zelt und las, die Füße auf dem Proviantbeutel, in dem Buch, das ich mit dem Versorgungspaket bekommen hatte – Maria Dermoûts The Ten Thousand Things –, bis mir die Augen zufielen. Ich knipste die Stirnlampe aus und blieb im Dunkeln liegen. Im Wegdösen hörte ich eine Eule in einem Baum direkt über mir. Hu-hu, rief sie so kräftig und sanft zugleich, dass ich wieder wach wurde.
»Hu-hu«, rief ich zurück, und die Eule verstummte.
»Hu-hu«, versuchte ich es noch einmal.
»Hu-hu«, antwortete sie.
Ich wanderte in der Three Sisters Wilderness, so benannt nach den drei Vulkangipfeln in ihrem östlichen Teil, der South, der North und der Middle Sister. Alle drei sind über 3000 Meter hoch und belegen unter den höchsten Bergen in Oregon die Ränge drei bis fünf. Sie waren gewissermaßen die Kronjuwelen unter den relativ dicht beieinanderliegenden Vulkangipfeln, an denen ich in der folgenden Woche vorüberkommen sollte, aber ich konnte sie noch nicht sehen, als ich mich auf dem PCT von Süden näherte und dabei im Kopf Lieder sang und Gedichte aufsagte, soweit ich sie noch konnte. Der Pfad führte durch einen Hochwald aus Douglasien, Weymouthskiefern und Berg-Hemlocktannen, vorbei an Seen und Teichen.
Zwei Tage nach meinem Abschied von den drei jungen Draufgängern verließ ich den Trail und machte einen Abstecher zu dem anderthalb Kilometer entfernten Elk Lake Resort, das in meinem Führer erwähnt war. Das Resort war ein kleiner, direkt am See gelegener Laden mit Anglerbedarf genau wie das Shelter Cove Resort, nur mit dem Unterschied, dass es auch über ein Café verfügte, in dem es Burger gab. Ich hatte diesen Abstecher nicht geplant, doch als ich an die Wegkreuzung gelangte, hatte mein ewiger Hunger gesiegt. Kurz vor elf lief ich dort ein. Abgesehen von dem Mann, der dort arbeitete, war ich der einzige Mensch am Platz. Ich studierte die Speisekarte, rechnete und bestellte einen Cheeseburger mit Pommes und eine kleine Coke. Dann setzte ich mich und aß mit Wonne, hinter mir Wände voller Fischköder. Meine Zeche betrug sechs Dollar und zehn Cent. Zum ersten Mal in meinem ganzen Leben konnte ich kein Trinkgeld geben. Meine verbliebenen zwei Cent liegen zu lassen wäre eine Beleidigung gewesen. Also zog ich einen kleinen Briefmarkenbogen aus der Ziplock-Tüte, in der ich meinen Führerschein aufbewahrte, und legte ihn neben den
Weitere Kostenlose Bücher