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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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Teller.
    »Tut mir leid – ich habe kein Geld mehr, aber ich habe Ihnen etwas anderes dagelassen«, entschuldigte ich mich, ohne zu sagen, was, weil es mir peinlich war.
    Der Mann schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas Unverständliches.
    Mit den zwei Cent in der Hand ging ich an den leeren kleinen Strand des Elk Lake und überlegte, ob ich sie ins Wasser werfen und mir etwas wünschen sollte. Ich entschied mich dagegen und steckte sie in die Hosentasche für den Fall, dass ich irgendwo zwischen hier und der Ranger-Station am Olallie Lake, von der mich immer noch ernüchternde hundertsechzig Kilometer trennten, zwei Cent brauchen sollte. Nicht mehr als zwei Cent zu besitzen fand ich einerseits schrecklich, andererseits aber auch ein wenig komisch. Wie ich so dastand und auf den See blickte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass es sich jetzt als nützlich erwies, dass ich in Armut aufgewachsen war. Denn wäre ich im Wohlstand groß geworden, hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut, mit so wenig Geld eine solche Reise anzutreten. Ich hatte den wirtschaftlichen Status meiner Familie immer daran gemessen, was ich nicht hatte: Geld für Ferienlager, Reisen oder Studiengebühren, ganz zu schweigen von dem unfassbaren Luxus, über eine Kreditkarte zu verfügen, für deren Kosten jemand anders aufkommt. Aber jetzt sah ich einen Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen – zwischen meiner Kindheit, in der ich miterlebt hatte, wie meine Mutter und mein Stiefvater immer weitermachten, auch wenn sie mal nur zwei Cent in der Tasche hatten, und meinem grundsätzlichen Gefühl, dass auch ich dazu in der Lage war. Bevor ich zu dieser Reise aufbrach, hatte ich mir nicht ausgerechnet, wie viel sie mich voraussichtlich kosten würde, und die entsprechende Summe gespart plus einem Polster für unvorhergesehene Ausgaben. Hätte ich es getan, wäre ich jetzt nicht hier, nicht seit über achtzig Tagen auf dem PCT, pleite zwar, aber sonst okay – und hätte ich mein Vorhaben nicht wahr gemacht, von dem jeder vernünftige Mensch gesagt hätte, dass ich es mir nicht leisten könnte.
    Ich wanderte weiter und erklomm einen 2000 Meter hoch gelegenen Aussichtspunkt, der einen Blick auf die Gipfel im Norden und Osten bot: den Bachelor Butte, den vergletscherten Broken Top und die South Sister, die nach Auskunft meines Führers mit ihren 3157 Metern nicht nur höher war als alle anderen, sondern auch die jüngste, größte und symmetrischste der drei Schwestern. Sie bestand aus über zwei Dutzend unterschiedlichen vulkanischen Gesteinen, aber für mich sah sie nur wie ein rotbrauner Berg aus, dessen obere Hänge teilweise mit Schnee bedeckt waren. Ich setzte meinen Weg fort, und im Lauf des Tages wurde es immer wärmer und schließlich so heiß, dass ich mich nach Kalifornien zurückversetzt fühlte, zumal ich wieder kilometerweit über eine felsige und grüne Landschaft blickte.
    Nun, da ich zwischen den Three Sisters wanderte, hatte ich den Trail nicht mehr für mich allein. Auf den felsigen Bergwiesen begegnete ich Tagesausflüglern, Kurzzeit-Rucksackwanderern und einer Pfadfindergruppe, die im Freien übernachten wollte. Ich blieb stehen und unterhielt mich mit mehreren von ihnen. Haben Sie eine Schusswaffe?, Haben Sie keine Angst?, fragten sie, das wiederholend, was ich schon den ganzen Sommer zu hören bekam. Nein, nein, antwortete ich und lachte ein wenig. Ich traf zwei Männer in meinem Alter, die an der Operation Desert Storm im Irak teilgenommen hatten und im Rang von Captains noch in der Armee dienten. Gut aussehende, kräftige und propere Jungs wie von einem Anwerbungsplakat der Armee. Wir machten zusammen eine längere Rast an einem Bach, in dem sie zwei Dosen Bier kalt gestellt hatten. Sie waren seit fünf Tagen unterwegs, und heute war ihr letzter Abend. Die beiden Dosen hatten sie die ganze Zeit mitgeschleppt, um sie heute zur Feier des Tages zu trinken.
    Sie wollten alles über meine Reise wissen. Wie es war, so lange allein zu wandern. Was ich erlebt hatte, was für Leute ich getroffen hatte und was um Himmels willen mit meinen Füßen passiert war. Sie wollten unbedingt meinen Rucksack hochheben und waren entsetzt, als sie feststellten, dass er schwerer war als ihre. Irgendwann zogen sie weiter. Ich blieb am sonnigen Ufer des Baches sitzen und wünschte ihnen alles Gute.
    »He, Cheryl«, rief mir einer der beiden zu, als sie schon fast außer Sicht waren. »Wir haben eine Dose Bier für Sie im Bach

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