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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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mexikanisches Restaurant, gut gelaunt, weil alles glatter gelaufen war als erwartet. Wir aßen Tortilla-Chips mit Salsa und tranken Margaritas, als ich plötzlich ein komisches Gefühl im Magen bekam.
    »Es ist, als hätte ich die Chips unzerkaut geschluckt«, sagte ich zu Aimee, »als wären die Ränder noch ganz und würden mich pieken.« Ich fühlte mich voll und spürte tief in mir drin ein ganz ungewohntes Kribbeln. »Vielleicht bin ich schwanger«, sagte ich scherzend, begriff aber noch im selben Moment, dass es kein Scherz war.
    »Bist du es denn?«, fragte Aimee.
    »Möglich wär’s«, sagte ich, plötzlich entsetzt. Ein paar Wochen zuvor hatte ich mit einem Mann namens Joe geschlafen. Ich hatte ihn im letzten Sommer in Portland kennengelernt, als ich dort Lisa besuchte, um vor meinen Problemen zu flüchten. Ich war erst ein paar Tage dort, als er mich in einer Bar ansprach und seine Hand auf mein Handgelenk legte.
    »Hübsch«, sagte er und fuhr mit den Fingern über die scharfen Ränder meines Zinnarmbands.
    Er hatte eine kurze, grell gefärbte Punkfrisur und ein protziges Tattoo, das seinen halben Arm bedeckte, doch sein Gesicht drückte genau das Gegenteil dieser Kostümierung aus: Beharrlichkeit und Zärtlichkeit – wie ein Kätzchen, das Milch wollte. Er war vierundzwanzig, und ich war fünfundzwanzig. Ich war mit niemandem mehr ins Bett gegangen, seit Paul und ich drei Monate zuvor Schluss gemacht hatten. In dieser Nacht schliefen wir auf Joes klumpiger Futonmatratze miteinander und taten kaum ein Auge zu, denn wir redeten bis zum Sonnenaufgang, hauptsächlich über ihn. Er erzählte mir von seiner klugen, patenten Mutter, seinem alkoholkranken Vater und von der noblen und strengen Uni, an der er im Jahr zuvor seinen Bachelor gemacht hatte.
    »Hast du mal Heroin probiert?«, fragte er mich am Morgen.
    Ich schüttelte den Kopf und lachte träge. »Sollte ich?«
    Ich hätte es dabei belassen können. Joe hatte gerade erst angefangen, es zu nehmen, als er mich kennenlernte, und die Clique, in der er verkehrte, kannte ich nicht. Ich hätte einfach das Thema wechseln können, aber irgendetwas zwang mich innezuhalten. Ich war fasziniert. Ich war ungebunden. Ich war jung. Und in meiner Trauer zur Selbstzerstörung bereit.
    Ich sagte nicht einfach nur Ja zu Heroin. Ich griff mit beiden Händen zu.
    Wir schmusten nach dem Sex auf Joes verlotterter Couch, als ich es das erste Mal nahm, eine Woche, nachdem wir uns kennengelernt hatten. Wir inhalierten abwechselnd den Dampf eines erhitzten Klümpchens »Black Tar«-Heroin, das auf einem Stück Alufolie lag, und benutzten dazu ein Röhrchen, das ebenfalls aus Alufolie war. Innerhalb weniger Tage war ich nicht mehr in Portland, um Lisa zu besuchen und meinem Kummer zu entfliehen. Ich war in Portland, weil ich mich im Drogenrausch halb in Joe verliebt hatte. Ich zog in seine Wohnung über einem leerstehenden Drugstore, und dort blieb ich den größten Teil des Sommers. Wir hatten aufregenden Sex und rauchten Heroin. Zu Anfang ein paarmal in der Woche, dann jeden zweiten Tag, dann täglich. Zuerst rauchten wir es, dann schnupften wir es. Aber wir würden es uns niemals spritzen!, sagten wir. Auf keinen Fall.
    Dann spritzten wir es.
    Es war gut. Es war unglaublich schön, wie nicht von dieser Welt. Als hätte ich einen Planeten entdeckt, der schon die ganze Zeit da gewesen war, ohne dass ich es gewusst hatte. Der Planet Heroin. Ein Planet, auf dem es keinen Schmerz gab – es war zwar schade, dass meine Mutter tot und mein leiblicher Vater nicht Teil meines Lebens war, schade, dass meine Familie auseinandergebrochen und ich nicht in der Lage war, mit einem Mann, den ich liebte, verheiratet zu bleiben, aber irgendwie war es auch okay.
    Zumindest empfand ich es so, solange ich high war.
    Vormittags war mein Schmerz dafür umso größer. Vormittags sah ich nur die traurigen Seiten meines Lebens. Und nun kam auch noch die Erkenntnis dazu, dass ich nichts weiter als ein Haufen Scheiße war. Ich erwachte in Joes Zimmer, das so vernachlässigt war wie jeder Gegenstand darin: die Lampe und der Tisch, das Buch, das heruntergefallen war und nun aufgeschlagen auf dem Fußboden lag, mit dem Rücken nach oben, die dünnen Seiten abgeknickt. Im Badezimmer wusch ich mir das Gesicht, schluchzte in meine Hände, holte ein paarmal tief Luft und machte mich für den Kellnerinnenjob fertig, den ich in einem Frühstückslokal angenommen hatte. Ich dachte: Das bin nicht ich. So bin ich

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