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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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denen Raubkatzen immer dem Tier nachgestellt hatten, das sie für das schwächste im Rudel hielten. Für mich stand außer Frage, dass ich dieses Tier war, das am wahrscheinlichsten in Stücke gerissen wurde. Ich sang laut die Liedchen, die mir in den Sinn kamen – »Twinkle, Twinkle, Little Star« und »Take Me Home, Country Roads« –, und hoffte, dass meine entsetzte Stimme den Berglöwen verscheuchte, fürchtete gleichzeitig aber auch, sie könnte ihn überhaupt erst auf mich aufmerksam machen, als hätten das verkrustete Blut an meinem Bein und mein mehrere Tage alter Schweißgeruch nicht genügt, um ihn anzulocken.
    Während ich mit den Augen die Umgebung absuchte, fiel mir auf, dass die Landschaft sich allmählich veränderte. Sie war zwar immer noch trocken, und wie schon auf der gesamten Strecke beherrschten Chaparral und Salbeisträucher das Bild, aber der Joshuabaum, Symbol der Mojave-Wüste, trat nur noch vereinzelt auf. Zahlreicher waren Wacholderbüsche, Pinyon-Kiefern und Buscheichen. Das Gras und die leidlich hohen Bäume waren mir ein Trost. Sie standen für Wasser und Leben. Sie gaben mir zu verstehen, dass ich es schaffen konnte.
    Bis mir ein Baum den Weg versperrte. Er war quer über den Trail gestürzt, und sein dicker, auf Ästen ruhender Stamm lag so dicht über dem Boden, dass ich nicht darunter durchkriechen konnte, ragte aber auch so weit in die Höhe, dass hinüberklettern ebenso wenig möglich schien, schon gar nicht mit meinem schweren Rucksack. Außen herumgehen kam auch nicht in Frage: Auf der einen Seite des Pfads fiel das Gelände steil ab, auf der anderen war das Gestrüpp zu dicht. Ich stand eine ganze Weile da und überlegte, wie ich an dem Baum vorbeikommen konnte. Ich musste, so unmöglich es auch erschien. Die Alternative hieße umkehren und in das Motel in Mojave zurückmarschieren. Bei dem Gedanken an mein kleines Achtzehn-Dollar-Zimmer geriet ich regelrecht in Verzückung, und Sehnsucht durchflutete meinen Körper. Ich stellte mich mit dem Rücken an den Baum, schnallte den Rucksack ab, wuchtete ihn nach oben, schob ihn über den rauen Stamm und ließ ihn auf der anderen Seite so vorsichtig wie möglich zu Boden fallen, damit beim Aufprall der Wassersack nicht platzte. Dann kletterte ich hinterher, wobei ich mir die Hände, die ich schon bei meinem Sturz aufgeschürft hatte, noch mehr zerkratzte. Auf den nächsten anderthalb Kilometern lagen drei weitere umgefallene Bäume im Weg. Als ich endlich an ihnen vorbei war, war die Wunde am Schienbein aufgebrochen und blutete wieder.
    Am Nachmittag des fünften Tages stapfte ich gerade ein schmales und steiles Wegstück hinauf, als ich den Kopf hob und ein riesiges Tier mit Hörnern auf mich zustürmen sah.
    »Ein Elch!«, brüllte ich, obwohl ich wusste, dass es kein Elch war. In der ersten Panik konnte mein Verstand nicht begreifen, was ich sah, und ein Elch kam dem, was ich sah, am nächsten. »Ein Elch!«, brüllte ich noch verzweifelter, als das Ungetüm näher kam. Ich kraxelte zwischen die Buscheichen und Bärentraubensträucher am Wegrand und zog mich an ihren scharfen Zweigen hoch, soweit es der schwere Rucksack zuließ.
    Derweil kam der Angreifer immer näher, und ich begriff, dass ich drauf und dran war, von einem texanischen Longhorn-Bullen auf die Hörner genommen zu werden.
    »Ein Elch!«, schrie ich noch lauter und tastete nach der gelben Schnur, mit der die lauteste Pfeife der Welt an meinem Rucksack befestigt war. Ich fand sie, führte sie an die Lippen, kniff die Augen zu und stieß mit aller Macht und so lange hinein, bis ich aufhören musste, weil mir die Puste ausging.
    Als ich die Augen wieder öffnete, war der Bulle verschwunden.
    Ebenso die gesamte Haut an der Kuppe meines rechten Zeigefingers. In meiner Panik hatte ich sie mir an den kantigen Zweigen der Bärentraubensträucher abgerissen.
    Die wichtigste Erfahrung, die ich in jenem Sommer machte – und die doch ganz simpel war wie die meisten, die man beim Wandern auf dem Pacific Crest Trail macht –, war, wie wenig Alternativen ich hatte und wie oft ich gerade das tun musste, was ich am wenigsten wollte. Es gab kein Weglaufen und kein Leugnen. Kein Runterspülen mit einem Martini und kein Überspielen mit Sex. Als ich an jenem Tag im Chaparral kauerte, meinen Finger verarztete und vor Angst, der Bulle könnte zurückkommen, bei jedem Geräusch zusammenzuckte, dachte ich über meine Alternativen nach. Es gab nur zwei, und im Grunde liefen beide auf

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