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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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Sonnenuntergang nicht in meine Fleece-Jacke geschlüpft war. Ich hatte nicht einmal ein langärmeliges Hemd angezogen. Es war überhaupt nicht kühl, obwohl ich mich in so größer Höhe befand. An diesem Abend war ich dankbar für die milde, warme Luft an meinen nackten Armen, doch am nächsten Morgen um zehn war meine Dankbarkeit verflogen.
    Die unerbittliche Hitze hatte sie vertrieben.
    Gegen Mittag war die Hitze so erbarmungslos und der Trail so schutzlos der Sonne ausgesetzt, dass ich mich allen Ernstes fragte, ob ich das überleben würde. Es war so heiß, dass ich alle zehn Minuten fünf Minuten Pause machen musste. Das Wasser in meiner Trinkflasche war so heiß wie Tee. Ich stöhnte beim Gehen, als könnte mir das Kühlung und Erleichterung verschaffen, aber nichts änderte sich. Die Sonne brannte weiter gnadenlos auf mich herab und scherte sich keinen Deut darum, ob ich lebte oder starb. Die dürren Sträucher und kümmerlichen Bäume standen teilnahmslos und ungerührt da, wie sie es immer getan hatten und immer tun würden.
    Ich war ein Stein. Ich war ein Blatt. Ich war der zackige Ast eines Baums. Ich war für sie nichts, und sie waren für immer alles.
    Ich ruhte mich aus, wenn ich etwas Schatten fand, und träumte von kühlem Wasser. Die Hitze war so groß, dass sie sich meinem Gedächtnis nicht als ein Gefühl eingeprägt hat, sondern als ein Geräusch, ein Wimmern, das zu einem jämmerlichen Wehklagen anschwoll, dessen Zentrum mein Kopf war. Ich hatte auf dem Trail schon einiges durchgemacht, aber ich hatte nie ans Aufgeben gedacht. Nun aber, nach zehn Tagen, war ich am Ende. Ich wollte nicht mehr.
    Ich schleppte mich nach Norden in Richtung Kennedy Meadows, wütend auf mich selbst, weil ich auf diese hirnrissige Idee verfallen war. Anderswo waren die Leute am Grillen und verlebten einen geruhsamen Tag, faulenzten an einem See und hielten ein Nickerchen. Sie hatten Eiswürfel und Limonade und Zimmer, in denen es angenehm kühl war. Ich kannte diese Leute. Ich liebte diese Leute. Ich hasste sie auch, weil sie mir so fern waren und noch nie von einer Nahtoderfahrung auf einem Wanderweg gehört hatten. Ich würde aufgeben. Aufgeben, aufgeben, aufgeben, sagte ich andauernd vor mich hin, während ich weitermarschierte und alle zehn Minuten fünf Minuten Pause machte. Ich würde mich bis Kennedy Meadows schleppen, mein Versorgungspaket abholen, sämtliche Schokoriegel aus dem Paket verdrücken und dann in die nächstbeste Stadt trampen, in die mich ein Autofahrer mitnahm. Ich würde mir einen Busbahnhof suchen und irgendwohin fahren.
    Nach Alaska, beschloss ich spontan. Denn in Alaska gab es auf jeden Fall Eis.
    Kaum hatte sich der Gedanke ans Aufgeben eingeschlichen, wartete ich schon mit dem nächsten Argument auf, warum diese ganze Wanderung auf dem PCT eine selten blöde Idee gewesen wäre. Ich hatte mir diesen Trip vorgenommen, um über mein Leben nachzudenken. Um mir darüber klar zu werden, woran ich zerbrochen war, und um mein Herz wieder zu kitten. Doch in Wahrheit wurde ich, zumindest bis dahin, voll und ganz von den einfachsten körperlichen Leiden in Anspruch genommen. Seit Beginn der Wanderung hatten die Kämpfe meines Lebens nur gelegentlich meine Gedanken gestreift. Warum, warum nur war meine Mutter gestorben, und wie sollte ich ohne sie weiterexistieren und aus meinem Leben etwas machen? Wie hatte meine Familie, die so fest zusammengehalten hatte, nach ihrem Tod so schnell und gründlich auseinanderfallen können? Warum hatte ich meine Ehe mit Paul ruiniert – mit diesem verlässlichen, zärtlichen Mann, der mich so standhaft geliebt hatte? Wie war ich nur auf so traurige Abwege geraten, mit Heroin und Joe und Sex mit Männern, die ich kaum kannte?
    Das waren die Fragen, die ich den ganzen Winter und Frühling über, während ich mich auf den Pacific Crest Trail vorbereitete, vor mir hergeschoben hatte. Fragen, die mich immer wieder zum Heulen gebracht hatten und über die ich mich in quälender Ausführlichkeit in meinem Tagebuch ausgelassen hatte. Ich hatte mir vorgenommen, sie während der Wanderung zu lösen. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich beim Anblick von Sonnenuntergängen und unberührten Bergseen in aller Ruhe darüber nachdenken würde. Mir vorgestellt, dass ich an jedem Tag der Reise heilsame Tränen der Trauer und Freude vergießen würde. Stattdessen stöhnte ich nur, und nicht weil mein Herz schmerzte, sondern weil mir die Füße wehtaten, der Rücken und die immer noch

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