Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Bergsteigerin verwandelt haben würde.
Inzwischen war ich klüger. Der Trail hatte mich demütig gemacht. Soviel stand fest: Ohne irgendeine Art von Eispickel-Training war die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich mit dem Ding aufspießte, größer, als dass ich mich mit seiner Hilfe davor bewahrte, einen steilen Berghang hinunterzurutschen. In den Pausen, die ich an diesem Tag einlegte, blätterte ich bei fast vierzig Grad in meinem Wanderführer und suchte etwas über die richtige Handhabung eines Eispickels. Ich fand nichts. Über das Wandern in verschneitem Gelände stand dort nur, dass Steigeisen und Eispickel ebenso unerlässlich seien wie der sichere Umgang mit dem Kompass, »ein sachkundiger Respekt vor Lawinen« und »viel Bergsteigersinn«.
Ich knallte das Buch zu und wanderte in der Hitze weiter in die Domeland Wilderness, getragen von der Hoffnung, in Kennedy Meadows von Greg einen Crashkurs im Gebrauch des Eispickels zu bekommen. Ich kannte ihn kaum, und dennoch war er für mich ein Vorbild geworden, mein Leitstern, der mich nach Norden führte. Wenn er es schaffte, schaffte ich es auch, dachte ich grimmig. Er war nicht zäher als ich. Niemand war das, sagte ich mir, ohne es wirklich zu glauben. Ich machte das in jenen Tagen zu meinem Mantra. Wenn ich wieder einmal vor einer Reihe von Serpentinen eine Pause einlegte oder einen halsbrecherischen Hang hinunterrutschte, wenn beim Sockenausziehen ganze Hautfetzen mitgingen oder wenn ich nachts einsam in meinem Zelt lag, stellte ich mir, und häufig laut, die Frage: Wer ist zäher als ich?
Die Antwort war immer dieselbe, und obwohl ich wusste, dass sie nicht stimmte, sagte ich jedes Mal: Niemand.
Die Wüste ging langsam in eine Waldlandschaft über. Die Bäume wurden höher und saftiger, die flachen Bachbetten führten immer häufiger wenigstens ein Rinnsal Wasser, Wildblumen bedeckten die Wiesen. Auch in der Wüste hatte es Blumen gegeben, aber längst nicht so viele, und sie waren fremdartiger und prachtvoller gewesen. Die Wildblumen, die ich jetzt sah, waren viel schlichter, bildeten einen leuchtenden Teppich oder säumten die schattigen Ränder des Pfads. Viele kannte ich, denn die gleichen oder zumindest verwandte Arten wuchsen im Sommer auch in Minnesota. Als ich an ihnen vorüberging, spürte ich die Gegenwart meiner Mutter so deutlich, als wäre sie wirklich da. Einmal blieb ich sogar stehen und sah mich nach ihr um, bevor ich weitergehen konnte.
Am Tag nach der Begegnung mit Greg sah ich nachmittags meinen ersten Bären auf dem Trail. Genauer gesagt, ich hörte ihn zuerst. Ein unverwechselbares, kräftiges Brummen. Ich blieb wie angewurzelt stehen und schaute auf. Ein Tier, groß wie ein Kühlschrank, stand zehn Meter vor mir auf dem Pfad. Unsere Blicke trafen sich, und über sein Gesicht huschte der gleiche Ausdruck des Erschreckens wie über meines.
»Ein Bär!«, schrie ich und griff nach meiner Pfeife. Im selben Moment machte er kehrt und rannte davon. Sein dickes Hinterteil wackelte in der Sonne, als meine Pfeife in ohrenbetäubender Lautstärke losschrillte.
Es dauerte ein paar Minuten, ehe ich den Mut aufbrachte weiterzugehen. Und nicht nur, weil ich in dieselbe Richtung musste, in die der Bär geflüchtet war. Zusätzlich zu denken gab mir, dass er überhaupt nicht wie ein Schwarzbär ausgesehen hatte. Ich hatte schon viele Schwarzbären gesehen. In den Wäldern im Norden Minnesotas gab es jede Menge. Oft hatte ich sie dort auf die gleiche Weise aufgeschreckt, beim Spazierengehen oder wenn ich unsere Schotterstraße entlanggerannt war. Aber diese Schwarzbären hatten anders ausgesehen als der, dem ich eben begegnet war. Sie waren schwarz gewesen. Pechschwarz. Schwarz wie die Blumenerde, die man in großen Plastiksäcken in der Gärtnerei kaufte. Dieser Bär hier war anders. Sein Fell war zimtbraun, an manchen Stellen fast hell.
Meine Schritte wurden zaghafter, und ich versuchte mir einzureden, dass es sich bei dem Bären unmöglich um einen Grizzly, den gefährlicheren Vetter des Schwarzbären, gehandelt haben konnte. Ausgeschlossen. Ich wusste, dass das nicht sein konnte. In Kalifornien gab es keine Grizzlys mehr, sie waren schon vor langer Zeit ausgerottet worden. Und dennoch: Warum war der Bär, den ich gesehen hatte, ohne jeden Zweifel nicht schwarzgewesen?
Eine Stunde lang behielt ich die Pfeife in der Hand, jederzeit bereit hineinzustoßen, und schmetterte mit gekünstelt tapferer Stimme Lieder, um den kühlschrankgroßen Bären,
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