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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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von welcher Art auch immer, nicht zu überraschen, falls ich erneut auf ihn stoßen sollte. Es waren dieselben Lieder, auf die ich schon vor einer Woche zurückgegriffen hatte, als ich mich von einem Puma belauert wähnte – »Twinkle, twinkle, little star« und » Country roads, take me home« . Später schaltete ich das Hitradio in meinem Kopf ein und sang einfach Zeilen aus Songs, die ich jetzt gern gehört hätte: »A mulatto, an albino, a mosquito, my libido. Yeah!«
    Genau wegen dieser Singerei wäre ich beinahe auf eine Klapperschlange getreten, denn ich hatte nicht realisiert, dass das nachdrückliche und immer lauter werdende Rasseln tatsächlich von einer Rassel herrührte. Und nicht von irgendeiner Rassel, sondern von einer, die das Schwanzende einer Schlange zierte, die so dick wie mein Unterarm war.
    »Iiih!«, kreischte ich beim Anblick der Schlange, die ein paar Schritte vor mir zusammengerollt auf dem Pfad lag. Hätte ich springen können, hätte ich es getan. Ich versuchte es, aber meine Füße verließen nicht den Boden. Also machte ich, vor Entsetzen schreiend, dass ich von dem kleinen, stumpfen Schlangenkopf wegkam. Es dauerte gut zehn Minuten, bis ich mir am ganzen Leib zitternd ein Herz fasste und in einem weiten Bogen um sie herumging.
    Den restlichen Tag kam ich nur im Trauermarschtempo voran. Ich suchte unablässig mit den Augen Boden und Horizont ab, zuckte bei jedem Geräusch zusammen und sagte vor mich hin: Ich habe keine Angst. Obwohl mir der Schreck noch in den Gliedern steckte, empfand ich auch eine gewisse Dankbarkeit. Endlich hatte ich ein paar von den Tieren gesehen, die in dieser Landschaft lebten, die, wie ich spürte, ein klein wenig auch meine zu werden begann. Gegen Ende meiner ersten Etappe merkte ich, dass ich den PCT trotz aller Strapazen langsam ins Herz schloss. Mein Rucksack kam mir, so schwer er auch war, fast wie ein Gefährte aus Fleisch und Blut vor. Er war nicht mehr der lächerliche VW Käfer, den ich vor zwei Wochen in dem Motelzimmer in Mojave so mühsam gebuckelt hatte. Mein Rucksack hatte jetzt einen Namen: Monster.
    Ich meinte das auf die denkbar netteste Weise. Es verblüffte mich, dass ich alles, was ich zum Leben brauchte, auf meinem Rücken tragen konnte. Dass ich das Untragbare tragen konnte. Diese Erkenntnis über die physische, materielle Seite meines Lebens beeinflusste zwangsläufig auch die psychische und geistige Seite. Dass mein kompliziertes Leben so einfach sein konnte, war erstaunlich, und so fragte ich mich immer öfter, ob es nicht vielleicht ganz in Ordnung war, dass ich meine Tage auf dem Trail nicht damit zugebracht hatte, über meinen Kummer und mein Leben nachzudenken. Und ob nicht vielleicht gerade der Umstand, dass ich mich auf mein körperliches Leid konzentrieren musste, mein seelisches Leid etwas linderte. Am Ende dieser zweiten Woche fiel mir auf, dass ich seit Beginn der Wanderung keine einzige Träne vergossen hatte.
    Die letzten Kilometer bis zu dem schmalen Flachstück, wo ich mein letztes Nachtlager vor Kennedy Meadows aufschlug, legte ich unter den üblichen Qualen zurück, die meine ständigen Begleiter geworden waren. Mit Erleichterung sah ich, dass ein umgefallener dicker Baum den Lagerplatz begrenzte. Er war abgestorben, die Rinde längst abgefallen, der verwitterte Stamm grau und glatt. Er bildete eine hohe, glatte Sitzbank, auf der ich Platz nehmen und bequem den Rucksack abschnallen konnte. Sobald ich den Rucksack los war, legte ich mich auf den Stamm wie auf ein Sofa – eine willkommene Abwechslung zur nackten Erde. Der Baum war gerade so breit, dass ich, wenn ich mich nicht bewegte, darauf liegen konnte, ohne auf einer Seite herunterzufallen. Es war ein herrliches Gefühl. Ich war durstig, hungrig und müde, aber das alles war nichts im Vergleich zu dem stechenden Schmerz, der von den Verspannungen in meinem Nacken ausstrahlte. Ich schloss die Augen und seufzte vor Erleichterung.
    Ein paar Minuten später spürte ich ein Kribbeln am Bein. Ich schaute an mir hinunter und sah, dass ich voller schwarzer Ameisen war. Eine ganze Armee von Ameisen kam in einer langen Polonaise aus einem Loch im Baum marschiert und schwärmte über meinen Körper aus. Laut schreiend, lauter noch als beim Anblick des Bären und der Klapperschlange, sprang ich von dem Stamm und schlug nach den harmlosen Ameisen, außer mir vor Angst. Und nicht nur vor den Ameisen, sondern vor allem. Vor der Tatsache, dass ich nicht von dieser Welt war, auch

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