Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
offenen Wunden an der Hüfte. Und in dieser zweiten Woche auf dem Trail, kurz vor dem kalendarischen Sommeranfang, auch deshalb, weil es so heiß war, dass ich dachte, mein Kopf würde platzen.
Wenn ich einmal nicht mit meinem körperlichen Zustand haderte, hörte ich in einer Endlosschleife irgendwelche Melodiefetzen von Liedern und Werbesongs, als hätte ich einen Hitradiosender im Kopf. Mein Gehirn reagierte auf die Stille mit Textfragmenten aus Stücken, die ich irgendwann im Verlauf meines Lebens gehört hatte – mit Zeilen aus Songs, die ich mochte, aber auch mit Jingles aus Werbespots, die mich fast in den Wahnsinn trieben. Stundenlang versuchte ich, Reklame für Doublemint-Kaugummi und Burger King aus meinem Kopf zu verbannen. Einen Nachmittag lang war ich damit beschäftigt, mir die nächste Zeile aus einem Stück der Alternative-Country-Band Uncle Tupelo in Erinnerung zu rufen, das folgendermaßen anfing: »Falling out the window. Tripping on a wrinkle in the rug …« Und einen ganzen Tag lang mühte ich mich, die Strophen von »Something About What Happens When We Talk« von Lucinda Williams zusammenzustoppeln.
Meine Füße und meine wund gescheuerten Hüften brannten, meine Muskeln und Gelenke schmerzten, der Finger, an dem ich mir auf der Flucht vor dem Bullen Haut abgerissen hatte, war leicht entzündet und pochte, mein Kopf glühte und dröhnte von irgendwelchem Gedudel, als ich mich am Ende des sengend heißen zehnten Tags meiner Wanderung mit letzter Kraft in den Schatten eines Hains aus Pappeln und Weiden schleppte, der nach Auskunft meines Wanderführers Spanish Needle Creek hieß. Im Unterschied zu vielen anderen im Führer erwähnten Orten, die das Wort »creek« im Namen führten und falsche Hoffnungen weckten, war der Spanish Needle Creek tatsächlich ein Bach, auch wenn er nur ein paar Zentimeter Wasser über einem steinigen, schattigen Bett zu bieten hatte – mir genügten sie vollauf. Ich warf den Rucksack ab, zog Stiefel und Kleider aus, setzte mich nackt in das kühle, seichte Nass und bespritzte mir Gesicht und Kopf. In meinen zehn Tagen auf dem Trail war ich noch keinem Menschen begegnet, und so genoss ich das Bad in vollen Zügen und ohne Sorge, dass jemand vorbeikommen könnte, pumpte mühsam das kalte Wasser durch meinen Wasserfilter und schüttete eine Flasche nach der anderen in mich hinein.
Als ich am nächsten Morgen vom leisen Plätschern des Spanish Needle Creek erwachte, blieb ich im Zelt liegen und sah durch die Zeltplane zu, wie der Himmel sich lichtete. Ich knabberte einen Müsliriegel und las in meinem Führer, um mich auf die nächste Etappe vorzubereiten. Schließlich stand ich auf, ging an den Bach und nahm, den Luxus auskostend, ein letztes Bad. Es war erst neun, aber schon heiß, und mir graute davor, das schattige Fleckchen am Bach zu verlassen. In dem zehn Zentimeter tiefen Wasser sitzend, beschloss ich, nicht bis Kennedy Meadows zu wandern. Bei meinem Tempo war selbst das zu weit. Im Wanderführer war eine Straße erwähnt, die neunzehn Kilometer von hier den Trail kreuzte. Dort würde ich dasselbe tun, was ich schon einmal getan hatte: Ich würde an der Straße entlanglaufen, bis mich jemand mitnahm. Nur würde ich diesmal nicht zurückkommen.
Als ich zum Aufbruch rüstete, hörte ich von Süden ein Geräusch und drehte mich um. Ein bärtiger Mann mit Rucksack kam den Trail heraufgestapft. Sein Wanderstock erzeugte bei jedem Schritt ein scharfes Klicken auf der harten Erde.
»Hallo!«, rief er mir lächelnd zu. »Sie müssen Cheryl Strayed sein.«
»Ja«, antwortete ich zögernd, gleichermaßen erstaunt, einen Menschen zu sehen, wie meinen Namen aus seinem Mund zu hören.
»Ich habe Ihren Eintrag im Trail-Register gelesen«, erklärte er, als er meine Verwunderung bemerkte. »Ich bin seit Tagen hinter Ihnen.« Ich sollte mich bald daran gewöhnen, dass mich Leute in der Wildnis so vertraut ansprachen. Das Trail-Register diente den ganzen Sommer über als eine Art Nachrichtenbörse. »Ich heiße Greg«, stellte er sich vor, drückte mir die Hand und deutete auf meinen Rucksack. »Schleppen Sie das Ding tatsächlich?«
Wir setzten uns in den Schatten und machten uns miteinander bekannt. Er war ein vierzigjähriger Buchhalter aus Tacoma, Washington, der auf mich auch wie ein Buchhalter wirkte, sachlich und korrekt. Seit Anfang Mai war er unterwegs. Er war an der mexikanischen Grenze, wo der PCT anfing, eingestiegen und wollte bis Kanada durchwandern. Zum
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