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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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doch der Waldhüter, mit dem ich sprach, war offensichtlich nicht auf dem Laufenden: Er sei dieses Jahr noch gar nicht oben gewesen, da der PCT noch zugeschneit sei, sagte er und zeigte sich überrascht, dass ich oben gewesen war. Wieder in Christines Wagen, zog ich meinen Wanderführer zurate. Die einzige vernünftige Stelle, wo ich auf den Trail zurückkehren konnte, war zweiundzwanzig Kilometer weiter westlich, wo er eine Straße kreuzte.
    »Die Mädchen da sehen so aus, als könnten sie etwas wissen«, sagte Christine und deutete über den Parkplatz zu einer Tankstelle, wo zwei junge Frauen neben einem Van standen, der mit dem Namen eines Ferienlagers beschriftet war.
    Ich ging zu ihnen, stellte mich vor, und ein paar Minuten später umarmte ich Christine zum Abschied und kletterte hinten in den Van. Die beiden Frauen waren Studentinnen. Sie jobbten in einem Sommercamp und mussten direkt an der Stelle vorbeifahren, wo der PCT die Straße kreuzte. Sie waren gern bereit, mich mitzunehmen, hatten vorher aber noch Besorgungen zu machen. Solange sie einkauften, setzte ich mich in den Schatten ihres klobigen Vans auf dem Parkplatz eines Lebensmittelladens und las in Dresden, Pennsylvania . Es war sommerlich warm und schwül – ganz anders als noch am Morgen oben im Schnee. Beim Lesen spürte ich die Gegenwart meiner Mutter so deutlich und ihre Abwesenheit so schmerzlich, dass ich mich nur schwer auf den Text konzentrieren konnte. Warum hatte ich mich darüber lustig gemacht, dass sie Michener liebte? Ich selbst hatte ihn ja auch gemocht – mit fünfzehn hatte ich Die Kinder von Torremolinos gleich viermal verschlungen. Zu den schlimmsten Seiten am frühen Verlust meiner Mutter gehörte, dass es so viel zu bedauern gab. Kleinigkeiten, die jetzt wehtaten: die vielen Male, als ich verächtlich die Augen verdrehte, wenn sie nett war, oder mich ihr entzog, wenn sie mich anfassen wollte, oder das eine Mal, als ich zu ihr sagte: »Wundert es dich eigentlich nicht, dass ich mit zweiundzwanzig viel anspruchsvoller bin, als du es warst?« Der Gedanke an meine jugendliche Überheblichkeit verursachte mir jetzt Übelkeit. Ich war ein arrogantes Arschloch gewesen, und mitten in dieser Zeit starb meine Mutter. Ja, ich war eine liebende Tochter gewesen, und ja, ich war für sie da gewesen, als es darauf ankam, aber ich hätte besser sein können. Ich hätte das sein können, was ich unbedingt aus ihrem Mund hatte hören wollen: die beste Tochter der Welt.
    Ich klappte Dresden, Pennsylvania zu und saß zerknirscht da, bis die Frauen mit einem Einkaufswagen wiederkamen. Ich half ihnen, die Tüten in den Van zu laden. Die beiden waren vier oder fünf Jahre jünger als ich, Haare und Gesichter glänzend und frisch. Beide trugen modische Shorts, Tanktops und bunte Flechtbänder um Handgelenke und Fußknöchel.
    »Das ist ziemlich heftig, allein zu wandern«, sagte die eine, als wir mit dem Einladen fertig waren.
    »Was sagen denn deine Eltern dazu?«, fragte die andere.
    »Nichts. Ich meine, ich habe keine Eltern. Meine Mutter ist tot, und einen Vater habe ich nicht – ich meine, natürlich habe ich einen, nur habe ich keinen Kontakt zu ihm.« Ich kletterte in den Van und verstaute Dresden, Pennsylvania im Monster, damit ich die Betretenheit, die über ihre sonnigen Gesichter huschte, nicht zu sehen brauchte.
    »Wow«, sagte die eine.
    »Ja«, die andere.
    »Das Positive daran ist, dass ich frei bin. Ich kann tun und lassen, was ich will.«
    »Ja«, sagte die, die vorhin »Wow« gesagt hatte.
    »Wow«, die andere, die vorhin »Ja« gesagt hatte.
    Sie stiegen vorn ein, und wir fuhren los. Ich schaute aus dem Fenster zu den hohen Bäumen, die draußen vorbeizogen, und dachte an Eddie. Ich verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil ich ihn nicht erwähnt hatte, als die Frauen nach meinen Eltern fragten. Mittlerweile war er für mich wie jemand, den ich früher einmal gekannt hatte. Ich hatte ihn noch gern, und ich hatte ihn sofort gerngehabt, schon am ersten Abend, als ich ihn mit zehn kennenlernte. Er war nicht wie die anderen Männer, mit denen meine Mutter in den Jahren nach ihrer Scheidung zusammen gewesen war. Mit den meisten war es nur ein paar Wochen gut gegangen, weil sie kalte Füße bekamen, wie ich bald begriff. Wenn sie mit meiner Mutter zusammen sein wollten, mussten sie auch mit Karen, Leif und mir zusammen sein. Aber Eddie liebte uns alle vier von Anfang an. Er arbeitete zu der Zeit in einer Fabrik, die Autoteile

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