Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
von Annie Proulx. Ich hatte diese Bücher gelesen und liebte sie. Ihre Umschläge waren für mich wie vertraute Gesichter, ihr bloßer Anblick gab mir ein heimeliges Gefühl. Vielleicht ließen mich Jeff und Christine hier bei ihnen wohnen, dachte ich unsinnigerweise. Ich könnte mich wie ihre Töchter auf der Veranda bräunen lassen und Zeitschriften lesen. Hätten sie es mir angeboten, ich hätte angenommen.
»Lesen Sie gern?«, fragte Christine. »Das tun wir immer, wenn wir hier heraufkommen. Das verstehen wir unter Ausspannen.«
»Lesen ist meine Belohnung am Ende des Tages«, sagte ich. »Im Moment lese ich Kurzgeschichten von Flannery O’Connor.« Das Buch steckte noch komplett im Rucksack. Ich hatte die gelesenen Seiten nicht verbrannt, da ich wegen des Schnees und meiner Routenänderung nicht wusste, wann ich mein nächstes Versorgungspaket erhalten würde. Ich hatte das Buch bereits ganz gelesen und am Abend zuvor wieder von vorn angefangen.
»Nun, Sie können gern eins von denen haben«, sagte Jeff, stand auf und ergriff Die Maßnahme. »Wir sind damit durch. Aber falls das nicht nach Ihrem Geschmack ist, hätte ich noch etwas anderes für Sie.« Er verschwand im Schlafzimmer neben der Küche, kam mit einem dicken Taschenbuch zurück und legte es neben meinen jetzt leeren Teller.
Ich sah es mir an. Es war von James Michener und trug den Titel Dresden, Pennsylvania. Ich kannte es nicht und hatte auch noch nie davon gehört, obwohl James Michener der Lieblingsautor meiner Mutter gewesen war. Erst auf dem College hatte ich erfahren, dass es an Michener etwas zu beanstanden gab. »Unterhaltungsliteratur für die breite Masse« , hatte einer meiner Dozenten gespöttelt, nachdem er mich gefragt hatte, was ich las. Michener, so riet er mir, sei kein Autor, mit dem ich mich beschäftigen sollte, wenn ich wirklich Schriftstellerin werden wolle. Ich fühlte mich beschämt. Als Teenager war ich mir immer wie eine Intellektuelle vorgekommen, wenn ich in Mazurka, Die Kinder von Torremolinos, Sternenjäger oder Sayonara schmökerte. In meinem ersten Monat am College lernte ich schnell, dass ich keine Ahnung hatte, wer wichtig war und wer nicht.
»Du weißt, dass das keine richtige Literatur ist«, hatte ich herablassend zu meiner Mutter gesagt, als ihr noch im selben Jahr jemand Micheners Roman Texas zuWeihnachtenschenkte.
»Keine richtige Literatur?« Meine Mutter sah mich fragend und amüsiert an.
»Ich meine, keine ernsthafte«, erwiderte ich. »Keine richtige Literatur, für die sich die Zeit lohnt.«
»Na ja, meine Zeit ist nie viel wert gewesen, wenn du es genau wissen willst, denn ich habe nie mehr als einen Minimallohn verdient und mich meistens für nichts abgerackert.« Sie lachte geringschätzig und gab mir einen Klaps auf den Arm. Wie immer setzte sie sich einfach über mein Urteil hinweg.
Als meine Mutter starb und die Frau, die Eddie schließlich heiratete, einzog, holte ich mir alle Bücher, die ich wollte, aus dem Regal meiner Mutter. Ich nahm die, die sie in den frühen Achtzigerjahren gekauft hatte, als wir auf unser Stück Land zogen: ein Lexikon des biologischen Gartenbaus und ein Buch über Partneryoga . Einen Wildblumenführer und eine Anleitung zum Selbstschneidern von Quilt-Westen.EinSongbook für Dulcimerund ein Buch übers Brotbacken. Dann noch eines über die Verwendung von Heilpflanzen und I Always Look Up the Word »Egregious« von Maxwell Nurnberg . Außerdem die Bücher, die sie mir vorgelesen hatte, als ich selbst noch nicht lesen konnte: die ungekürzten Ausgaben von Bambi, Black Beauty und Unsere kleine Farm. Und die, die sie als Studentin in den Jahren vor ihrem Tod gekauft hatte: The Sacred Hoop von Paula Gunn Allen, Die Schwertkämpferin von Maxine Hong Kingston und This Bridge Called My Back von Cherríe Moraga und Gloria Anzaldúa. Schließlich noch Herman Melvilles Moby Dick ,Mark Twains Huckleberry Finn und Walt Whitmans Grashalme. Aber die Romane von James Michener, die Lieblingsbücher meiner Mutter, hatte ich stehen lassen.
»Danke«, sagte ich jetzt zu Jeff und nahm Dresden, Pennsylvania vom Tisch. »Ich gebe Ihnen dafür die Kurzgeschichten von Flannery O’Connor. Ein unglaubliches Buch.« Ich verkniff mir die Bemerkung, dass ich es am Abend im Wald würde verbrennen müssen, wenn er ablehnte.
»Absolut«, antwortete er lachend. »Aber ich glaube, ich mache dabei das bessere Geschäft.«
Nach dem Essen chauffierte mich Christine zu der Ranger-Station in Quincy,
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