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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Zweifel.«
    »Nun denn, auf Gegenseitigkeit!«
    Damit trennten sich die beiden jungen Leute.
    Olivier Sinclair glaubte nicht von diesem Vorfall spre-
    chen zu sollen, der ihm auch von zu geringer Wichtigkeit
    erschien. Aristobulos Ursiclos erwähnte ihn natürlich erst
    recht gegenüber niemand; im Grunde aber hielt er sehr

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    große Stücke auf seine heile Haut und wußte es seinem Ri-
    valen Dank, ihn aus der Klemme gezogen zu haben.
    Und der berühmte Strahl? Wir müssen gestehen, daß er
    sich gewaltig bitten ließ. Doch war nicht mehr viel Zeit zu
    verlieren. Die Herbstzeit mußte den Himmel nun bald mit
    ihrem Nebelschleier bedecken; dann gab es aber jedenfalls
    keine klaren Abende mehr, mit denen der September in so
    hohen Breiten überhaupt ziemlich geizt; keinen reinen Ho-
    rizont mehr, dessen Linie eher von dem Zirkel eines Geo-
    meters, als von dem Pinsel eines Malers gezogen scheint.
    Sollte man also zuletzt darauf verzichten müssen, die sel-
    tene Erscheinung zu sehen, welche die Gesellschaft von ei-
    nem Ort zum andern getrieben hatte? Sollte man genötigt
    werden, die Beobachtung der Erscheinung auf das nächste
    Jahr zu verschieben, oder sie halsstarrig noch unter anderen
    Himmelsstrichen verfolgen?
    In der Tat fühlten sich Miss Campbell und Olivier Sin-
    clair recht enttäuscht, und die Brüder Melvill wurden un-
    willig, den Horizont der Hebriden unausgesetzt von den
    Nebeln des hohen Meeres verdunkelt zu sehen.
    So gestaltete es sich wenigstens die ersten Tage des oft
    trüben Monats September.
    Jeden Abend fanden sich Miss Campbell, Olivier Sin-
    clair, Bruder Sam, Bruder Sib, Mrs. Bess und Patridge auf ir-
    gendeinem Felsen, den die sanften Wellen der Flut bespül-
    ten, zusammen, um aufmerksam dem Untergang der Sonne
    zu folgen, die jetzt in weit glänzenderem Schein leuchtete,
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    als das bei vollkommener Reinheit des Himmels hätte der
    Fall sein können.
    Ein Künstler hätte vor Freude in die Hände geklatscht bei
    dieser prächtigen Verklärung des Himmelsgewölbes, wenn
    der Tag Abschied nahm, bei diesem entzückenden Farben-
    spiel, das, von Wolke zu Wolke überspringend, vom Violett
    des Zenits bis zum Rotgold des Horizonts wechselte; vor
    dieser glitzernden Kaskade der auf den Luftfelsen umher-
    hüpfenden Feuerfunken; hier bestanden die Felsen freilich
    aus Wolken, und diese Wolken, welche die Sonnenscheibe
    überzogen, raubten mit deren letzten Strahlen auch den,
    den das Auge der Beobachter so beharrlich suchte.
    Nach dem Verschwinden des Gestirns erhoben sich dann
    alle verstimmt, wie die Zuschauer eines Märchendramas,
    dessen Schlußeffekt durch den Fehler eines Maschinisten
    verunglückt ist, und kehrten meist auf langem Umweg in
    die Herberge ›Duncans Harnisch‹ zurück.
    »Also morgen«, sagte dann Miss Campbell.
    »Ja, morgen«, antworteten die beiden Onkel. »Wir haben
    so eine Art Vorgefühl, daß morgen . . .«
    Dieses Vorgefühl empfanden die Brüder Melvill freilich
    alle Abende, und unabänderlich endete es mit einem Fi-
    asko.
    Der Morgen des 5. September dagegen ließ sich über-
    raschend schön an. Die Dünste im Osten verschwanden
    schon unter den ersten Sonnenstrahlen.
    Das Barometer, dessen Nadel sich seit einigen Tagen auf
    ›Schön Wetter‹ zu bewegte, stieg noch immer und blieb auf
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    diesem Punkt stehen. Jetzt wurde es nicht mehr so warm,
    daß die Luft jenes Zittern von scheinbaren Stäubchen ge-
    zeigt hätte, das man an heißen Sommertagen nicht selten
    bemerkt. Man empfand die Trockenheit der Luft auf Mee-
    reshöhe ebenso, wie in der verdünnten Luft auf einem Berg
    von einigen tausend Fuß Höhe.
    Es wäre unmöglich zu sagen, mit welch ängstlicher Span-
    nung alle den weiteren Verlauf des Tages beobachteten; ja,
    wir müssen darauf verzichten, zu schildern, mit welchem
    Herzklopfen sie danach auslugten, ob sich ein Wölkchen
    am Himmel bilden wolle, und es wäre maßlose Kühnheit,
    die Angst auszumalen, mit der sie dem bei ihrem täglichen
    Lauf beschriebenen Bogen der Sonne folgten.
    Glücklicherweise wehte eine leichte, aber anhaltende
    Brise von der Landseite her. Bei ihrem Weg über die Berg-
    länder im Osten und über die ausgedehnten Wiesenstre-
    cken dahinter konnte sie sich nicht mit jenen feuchten Mo-
    lekülen beladen, die von großen Wasserflächen aufsteigen
    und die der Wind von der Seeseite des Abends herantreibt.
    Aber wie unendlich lang wurde dieser Tag! Miss Camp-
    bell konnte sich

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