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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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sich nur
    das grenzenlose Meer vor ihnen aus.
    Die Sonne sank in schräger Linie schnell tiefer. Der
    Rand des Horizonts erschien gleich einem schwarzen, mit
    chinesischer Tusche gezogenen Strich. Nach rückwärts da-
    — 208 —
    gegen glühten alle Fenster der Häuser von Iona, wie im Wi-
    derschein einer Feuersbrunst mit Flammen von schmelzen-
    dem Gold.
    Miss Campbell, Olivier Sinclair, die Brüder Melvill, Mrs.
    Bess und Patridge verhielten sich, ergriffen von diesem er-
    habenen Schauspiel, ganz still. Sie betrachteten, halb die Au-
    genlider schließend, die Scheibe, die allmählich ihre Form
    veränderte, sich parallel der Wasserlinie aufblähte und die
    Form einer ungeheuren Montgolfiere annahm. Im Welt-
    raum war nicht der feinste Dunst zu bemerken.
    »Ich glaube, dieses Mal haben wir ihn wirklich«, fing
    Bruder Sam wieder an.
    »Ich glaub’s auch«, stimmte Bruder Sib bei.
    »Bitte, schweigt, liebe Onkel!«, rief Miss Campbell.
    Sie schwiegen, sie hielten den Atem an, als fürchteten sie,
    er könne sich zu einer leichten Wolke verdichten, die ihnen
    die Sonnenscheibe verhüllen könnte.
    Endlich berührte der untere Rand des Gestirns den Ho-
    rizont. Es verbreiterte sich, verbreiterte sich immer mehr,
    als wäre es im Inneren mit leichtem Fluidum angefüllt.
    Alle sogen mit den Augen die letzten Strahlen ein.
    So gespannt wartete Arago, als er sich in der Wüstenei
    von Palma befand, auf das Signalfeuer, das auf dem höchs-
    ten Punkt der Insel Iviça aufleuchten und ihm Gelegenheit
    geben sollte, das letzte Dreieck seines Meridians zu schlie-
    ßen.Endlich überragte die Wasserlinie nur noch ein schmales
    Segment des oberen Bogenstücks. Nach 15 Sekunden mußte
    — 209 —
    der letzte Strahl über die Erde hinblitzen und in den Augen
    der Beobachter, die sich schon vorbereiteten, ihn aufzufan-
    gen, den Eindruck eines paradiesischen Grüns hervorru-
    fen! . . .
    Plötzlich krachten zwei Flintenschüsse zwischen den
    Uferfelsen unterhalb des Bergs. Leichter Rauch stieg em-
    por, und zwischen dessen Einzelwolken flatterte ein ganzer
    Schwarm von Vögeln, von Seeschwalben, Möwen und ande-
    ren, die der heftige Flintenknall aufgeschreckt hatte.
    Diese Wolke stieg gerade empor, schob sich wie ein
    Lichtschirm zwischen den Horizont und die Insel, und zog
    an dem versinkenden Gestirn vorüber, gerade als dieses sei-
    nen allerletzten Lichtschein über die Wasserfläche sandte.
    Da gewahrte man auf einem Felsblock des Ufers, die rau-
    chende Flinte in der Hand und den Vogelschwarm mit den
    Blicken verfolgend, Aristobulos Ursiclos!
    »Ach, dieses Mal ist es genug!« rief Bruder Sam.
    »Nein, etwas zu viel!« fügte Bruder Sib hinzu.
    »Ich hätte besser getan, ihn am Felsen hängen zu lassen«,
    sagte Olivier Sinclair für sich – »wenigstens wäre er dann
    noch dort!«
    Die Lippen geschlossen und die Augen starr hinabge-
    richtet, sprach Miss Campbell nicht ein Wort.
    Noch einmal und wiederum durch die Schuld dieses
    Aristobulos Ursiclos war sie um ihren Grünen Strahl ge-
    kommen!

    — 210 —
    — 211 —
    17. KAPITEL
    An Bord der ›Clorinda‹
    Am folgenden Morgen gegen 6 Uhr verließ eine reizende
    Yawl von 45 bis 50 Tonnen, die ›Clorinda‹, den kleinen Ha-
    fen von Iona, und segelte bei leichter nordöstlicher Brise
    mit Steuerbordhalsen dicht am Wind aufs hohe Meer hin-
    aus.Die ›Clorinda‹ entführte Miss Campbell, Olivier Sinclair,
    Bruder Sam, Bruder Sib, Mrs. Bess und Patridge. Es versteht
    sich von selbst, daß der unglückselige Aristobulos Ursiclos
    nicht mit an Bord war.
    Nach dem Abenteuer des Vortags hatte man nämlich fol-
    gendes beschlossen und unverzüglich ins Werk gesetzt:
    Beim Niedersteigen vom Abbey Hill und bei der Rück-
    kehr nach der Herberge hatte Miss Campbell in kurzem
    Ton gesagt:
    »Meine Onkel, da Mr. Aristobulos Ursiclos sich in den
    Kopf gesetzt zu haben scheint, noch länger auf Iona zu blei-
    ben, wollen wir Iona diesem Mr. Aristobulos Ursiclos über-
    lassen. Zum ersten Mal in Oban, zum zweiten Mal hier hat
    er unsere Beobachtungen zunichte gemacht. Wir werden
    nicht einen Tag länger hier bleiben, wo dieser Unselige of-
    fenbar ein Vorrecht genießt, Dummheiten zu begehen!«
    Auf diese ebenso kurze wie bündige Erklärung konnten
    die Brüder Melvill keine Erwiderung finden. Übrigens teil-
    ten auch sie die allgemeine Mißstimmung und verwünsch-
    ten Aristobulos Ursiclos, so kräftig ihre Natur das zuließ.
    — 212 —
    Entschieden war die Situation

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