Der Gute Ton 1950
wenn man ihnen seltener und seltener einen Sitzplatz
anbietet, so kommt es mit daher, dass viele Damen die ihnen erwiesene
Ritterlichkeit als selbstverständlich betrachteten. Sie drückten ihren
Dank durch einen Blick aus, der deutlich sagte: »Ich wusste wohl, dass
ich wieder einen Dummen finden würde, der mir seinen Platz abgibt«.
Ein Mann, der eine Strassenbahn oder einen Omnibus besteigt, ist nicht
verpflichtet, die Frauen vor ihm einsteigen zu lassen. Wenn die Reihe
an ihn kommt, muss er nicht zurücktreten. Niemand muss sich in
diesem Fall an Regeln halten, es ist und bleibt eine höfliche Geste,
wenn man seinen Platz anbietet, oder beim Einsteigen einer Dame den
Vortritt lässt.
IN DER EISENBAHN.
Ein Zugabteil ist kein Zimmer Ihrer Wohnung, und Sie haben nur
Anrecht auf den Teil des Netzes über Ihrem Sitzplatz. Die Eisenbahn
hat Ihnen mit Ihrer Fahrkarte nicht zugleich das Recht verkauft, die
Sitzbank in eine Fussstütze oder in ein Bett zu verwandeln, besonders
wenn der Zug sehr besetzt ist. Wollen wir doch nicht die durchsichtige
Lüge gebrauchen, dass ein Abteil besetzt sei, in dem wir allein sitzen.
Niemand wird es uns glauben. Wenn uns jemand seinen Platz für eine
Weile »leiht«, müssen wir ihn zurückgeben, sobald wir merken, dass
der Eigentümer ermüdet ist. Er soll uns nicht daran erinnern müssen,
dass wir auf seinem Platz sitzen. Da nutzt auch die kleine Komödie
nichts, dass wir uns eingeschlafen stellen!
Es ist unnötig, unserem Fahrt- und Schlafwagengenossen unsere
besondere Sympathie zu bekunden. Im Schlafwagen sind Sie nicht
verpflichtet, mit Ihrem Schlafgenossen das Bett zu tauschen, wenn es
ihm passt. Die Betten sind numeriert, und Sie halten sich an die
vorgesehene Ordnung. Aber Sie lassen Ihrem Schlafgenossen die Wahl,
sich vor oder nach Ihnen auszukleiden oder zu waschen. In der
Eisenbahn haben die Reisenden, die frieren, das Vorrecht vor denen,
die zu ersticken glauben. Auch der Schaffner wird auf Seiten der
Frierenden stehen. Er ist auch überzeugt, dass man eher an einer
Lungenentzündung als an einem Dampfbad stirbt.
Es gibt Reisende, die im Zug an einer seltsamen Krankheit leiden.
Sobald die Lokomotive anfährt, entdecken sie einen Riesenhunger. Sie
finden anscheinend keinen geeigneteren Rahmen für ein Festmahl als
ein Zugabteil. Sie hören nicht eher auf zu tafeln, als bis das Abteil voll
fettiger Papiere ist, bis Sitzbänke und alle Mitreisenden mit
Brotkrumen übersät sind und Wein überall verschüttet
ist. Vor einigen Jahren hätte man gesagt, dass diese Menschen die
Moral der Bevölkerung durch den Beweis, dass die Rationen Gott sei
Dank noch erträglich seien, zu heben versuchten, obwohl sie sich
zwischen zwei Bissen über die Hungerszeit zu beklagen pflegten. Der
wieder ins Leben gerufene Speisewagen hat diese Rasse der ewig
kauenden Reisenden nicht verschwinden lassen. Man muss sich auch
fragen, welcher Speisewagen diesen aus-serordentlichen Appetit stillen
könnte! Es ist keineswegs unschicklich im Zug zu essen, aber es ist
angebracht, Esswaren zu wählen, die man unauffällig verzehrt, wie
zum Beispiel belegte Brötchen. Man kann Sekt anderswo als in einem
Zugabteil trinken.
IM HOTEL.
Bei nachtschlafener Zeit sollten wir unsere Mitmenschen nicht durch
Lärm auf unsere Anwesenheit aufmerksam machen. Wir müssen
unbedingt Rücksicht nehmen. Wir wollen uns auch nicht auf das
Klavier im Empfangsraum stürzen, um jedermann wissen zu lassen,
dass wir ein zweiter Pade-rewski sind. Die Hotelverwaltung ahnt diese
Gefahr und verschliesst das Klavier. Wenn Sie nicht durch Ihren Pass
beweisen können, dass Sie Walter Giese-king sind, bleibt Ihnen keine
grosse Hoffnung, dass die Lärmmaschine für Sie geöffnet wird. Wir
sind nicht zu Hause! Man sagt, man erkenne einen Gentleman daran,
dass er im entferntesten Land oder in einem Hotel dritten Ranges
niemals der Versuchung unterliegt, seine Schuhe am Vorhang seines
Zimmers zu putzen.
DIE PUENKTLICHKEIT.
Wenn es wahr ist, dass die Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige
ist, dann wollen wir immer königlich sein. Denken wir daran, dass
wir Schauspielern oder Musikern Rücksicht schulden wie auch den
Zuschauern, die zeitig erschienen und wahrscheinlich ebensoviel gute
Gründe wie wir gehabt hätten, zu spät zu kommen. Der französische
Dramaturg und Humorist Tristan Bernard wohnte einmal einem
Festessen bei, zu dem ein Gast mit einer knappen Stunde
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