Der Gute Ton 1950
vielmehr im
Weitergehen, oder besser Weitersteigen sogar noch galante
Komplimente machen. Es empfahl sich jedenfalls, die Treppe vorher
zwei bis dreimal zur Probe hinaufzusteigen, um mit dem
»Operationsfeld« vertraut zu werden. Wie leicht hätte ein einziger
Fehltritt die Ursache sein können, dass der ritterliche Herr die Treppe
in rasendem Tempo wieder »hinunterging«. Wenn der Herr mit einer
Unbekannten an einer Treppe sich traf, musste er hinter einer Säule
versteckt warten, bis die Dame den ersten Treppenabsatz erreicht
hatte. Dann erst durfte er hinaufsteigen — vorausgesetzt, dass das
Schamgefühl jener Zeit diese Entfernung für genügend gross hielt!
Man kann den Grund zu diesen Vorschriften nur schwer verstehen,
wenn man an die weibliche Mode jener Jahre denkt. Wie konnte die
Mode jener Zeit eine Frau gewagt erscheinen lassen? Man weiss nicht,
ob diese Sitte zu viele Unfälle auf der Treppe verursachte, oder ob das
Schamgefühl nachgelassen hat. Jedenfalls ist sie für uns nur noch eine
heitere Erinnerung.
Es bestehen heute keine besonderen Vorschriften mehr für das
Treppensteigen. Ein Herr sollte aber an einem Treppenabsatz warten,
wenn eine Dame oder ein älterer Herr ihm entgegen kommt, es ist
höflicher als sich auf der Treppe aneinander vor-überzuschlängeln. Ein
Herr nimmt seinen Hut ab, wenn er jemandem im Treppenhaus
begegnet, er überlässt auch stets die Geländerseite der Dame oder
einem älteren Herrn.
IN EINEM FAHRSTUHL.
Im Fahrstuhl sind die Regeln ungefähr die gleichen wie auf der
Treppe. Wenn schon jemand in dem Fahrstuhl ist, grüsst man beim
Eintreten. Ehe man sich anschickt, einen Fahrstuhl in Bewegung
zu setzen, sollte man sich vergewissern, ob nicht jemand nachkommt.
Wäre dies der Fall, so müsste man warten, bis die betreffende Person
den Fahrstuhl bestiegen hat. Es ist für die anderen genau so
unangenehm wie für einen selbst, einen Fahrstuhl gerade vor der Nase
verschwinden zu sehen. Eine Frau soll nicht denken, dass der Mann
unbedingt verpflichtet ist, ihr den Vorrang zu lassen oder zu grüssen.
Sie dankt aber für seine Liebenswürdigkeit mit einem freundlichen
Blick — denn männliche Höflichkeit braucht diese bescheidene
Ermunterung.
IM WAGEN.
Es kann vorkommen, dass wir in den Wagen eines Unbekannten
steigen, besonders wenn wir lieber auf der Strasse ein Auto anhalten
als zu Fuss zu gehen. Autostop ist eine der burschikosesten und
ungeniertesten Sitten, die aus Uebersee zu uns gekommen sind. Sie
war in den Regeln des guten Tons nicht vorgesehen, sie wäre bestimmt
verboten worden. Es kann aber immer einmal ein Fall eintreten, dass
wir in den Wagen eines Unbekannten einsteigen. Wir dürfen dann
nicht vergessen, dass das Auto beinahe wie das Zuhause eines
Menschen zu betrachten ist. Ein Herr nimmt seinen Hut ab, wenn er
einem fremden Wagen besteigt, und eine Dame grüsst höflich.
Auch wenn der Fahrer des Wagens der »Herr im Hause« ist, sollte er
nicht glauben, dass die Strasse ihm gehört und die Fussgänger nur
erfunden wurden, um seine Schikanen zu erdulden. Es ist
überraschend, wie sich die Sprache eines gebildeten Menschen
wandelt, sobald er die Hand am Steuer hat. Wenn ein Fussgänger oder
ein Fahrer die Verkehrsregeln vergisst, ist das Opfer dem Schuldigen
gegenüber nicht von allen Höflichkeitspflichten befreit. Die
Fussgänger sollen dagegen nicht alle Autofahrer für Mörder halten
und jedesmal laut fluchen, wenn sie ihr Leben in Gefahr glaubten.
Wenn wir auf der Landstrasse einem Wagen begegnen, der eine
Panne hat, muss der Besitzer nicht unbedingt ein Jugendfreund von
uns sein, damit wir ihm für einige Minuten ein Handwerkszeug zur
Reparatur leihen. Wir können ihm Ratschläge geben, wenn sie richtig
sind und keine neuen, grössere Schwierigkeiten schaffen. Wir müssen
auch gewillt sein, die nächstgelegene Garage zu benachrichtigen, wenn
wir nicht anders helfen können.
IM OMNIBUS UND IN DER STRASSENBAHN.
Der Kampf um das tägliche Beefsteak hat die Pflichten eines
Gentleman in der Strassenbahn oder im Omnibus geändert. Ein Mann
muss seinen Platz nicht mehr einer Dame abgeben, er hat auch das
Recht, seine Kräfte zu schonen und einen Sitzplatz zu schätzen. Er
überlässt seinen Platz natürlich einer älteren Dame oder einem
Verletzten, die ihm höflich danken. Es ist vielleicht die Schuld der
Damen, wenn eine für sie günstige Sitte heute nicht mehr allgemein
geachtet wird:
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