Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gute Ton 1950

Der Gute Ton 1950

Titel: Der Gute Ton 1950 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans H. Wiese
Vom Netzwerk:
sollen sich nicht wundern, wenn
    man sie nicht ernst nimmt und sie unnatürlich findet. Andere wieder
    scheinen beschlossen zu haben, stets eine verächtliche Miene zur Schau
    zu tragen, die sie gelegentlich durch ein Monokel noch betonen,
    obwohl diese Mode längst vorbei ist. Auch sie werden nicht ernst
    genommen. Auch die gespielte Leutseligkeit täuscht niemand mehr.
    Warum begrüsst man jemanden, den man zum erstenmal sieht,
    übermässig herzlich und mit einem gütigen Auf-die-SchuIter-Klopfen?
    Wir sollten uns bemühen, natürlich und einfach zu sein, denn nur das
    Natürliche ist schön und angenehm. Anteilnahme kann bezeugt
    werden, ohne dass man dazu Grimassen schneidet, wie sie der
    stumme Film in Grossaufnahmen zeigte, die das Wort ersetzen
    sollten. Es fällt uns heute schwer, ernst zu bleiben, wenn wir einen
    dieser Filmstreifen sehen. Wer diese Filmmimik ins tägliche Leben
    überträgt, würde wahrscheinlich über sich selbst lachen, sähe er sich
    im Spiegel.
    DER TICK.
    Wir leben in einem nervösen Jahrhundert und müssen, so gut es
    geht, unserem Nächsten den Anblick unserer Nervosität ersparen,
    ohne ins Gegenteil, ins Phlegma zu verfallen. Wir sollten in der
    Oeffentlichkeit unsere nervösen Angewohnheiten möglichst
    unterdrücken. Es ist unschön, sich ständig zu kratzen, um einen
    eingebildeten Floh oder eine nicht vorhandene Schnake zu suchen. Von
    jenen, die ihre Nägel kauen, ganz zu schweigen. Andere wieder, die
    keine solch unästhetischen Angewohnheiten haben, können dafür
    keine Minute still sitzen. Sie rutschen auf ihrem Stuhl hin und her, oder
    sie laufen beim Sprechen im Zimmer auf und ab. Andere spielen mit
    einer Streichholzschachtel oder mit ihrem Schlüsselbund. Vielleicht
    hören sie dieses Geräusch gern, die sie Umgebenden aber sicher
    weniger. Mit Energie kann man diese Nervosität überwinden.

    Wir haben hier natürlich nur von dummen nervösen
    Angewohnheiten gesprochen, nicht von kranken Nerven. Denn
    Krankheiten unterliegen nicht den Gesetzen des guten Tons.
    IV.
    SEID GÜTIG UND RÜCKSICHTSVOLL ZU UNBEKANNTEN
    Nächstenliebe lebt mit tausend Seelen,
    Egoismus mit einer einzigen und die ist erbärmlich.
    Marie von Ebner-Eschenbach
    Wie alle Tugenden ist der Ursprung der Höflichkeit nicht Egoismus
    sondern Nächstenliebe. Wir sollen darum nicht nur zu Bekannten gütig
    und rücksichtsvoll sein: wir haben die Pflicht, auch zu Unbekannten
    höflich zu sein. Das heisst zu jenen Menschen, deren Leben mit dem
    unseren nichts gemein hat, ausser dass wir eines Tages Nachbarn in
    der Strassenbahn waren oder einmal zu gleicher Zeit die gleiche
    Treppe oder den gleichen Aufzug benutzten.
    AUF DER STRASSE.
    Die Höflichkeit dem Unbekannten gegenüber fängt für uns auf der
    Strasse an. Auf der Strasse sollte der Mann an die ritterliche
    Erziehung des Mittelalters denken und die Frau vor allen drohenden
    Gefahren schützen. Glauben Sie nicht, dass der gute Ton ein
    besonderes Verhalten für den Fall vorschreibt, dass eine Frau tätlich
    angegriffen wird. Das gehört nicht mehr in das Gebiet der Höflichkeit;
    die Höflichkeit erstreckt sich nur auf die Gefahren, die der Verkehr auf
    der Strasse mitsich-bringt. Der Mann überlässt der Frau den
    Bürgersteig. Er selbst muss auf der Seite des Bordsteins gehen. Wenn
    der Bürgersteig zu schmal wird, tritt er auf die Strasse hinunter, um die
    Dame vorgehen oder eine andere vorbeizulassen. Ein jüngerer Mann
    tritt auch vor einem älteren Herrn zurück. Eine jüngere Dame handelt
    einer älteren Dame gegenüber ebenso.
    AN DER TÜRE.
    Diese Regeln gelten nicht allein für die Strasse. Sie müssen auch bei
    vielen anderen Gelegenheiten beachtet werden, zum Beispiel beim
    Betreten oder Verlassen eines Hauses. Der Herr, der vor einer Dame
    oder einem älteren Herrn zurücktritt, lüftet den Hut, die Dame drückt
    ihren Dank durch leichtes Nicken des Kopfes oder ein diskretes
    Lächeln aus. Es sei hier erwähnt, dass man a n der Kirchentür die
    Regeln des Vorrangs nicht beachtet. Man tritt ein, wie man kommt,
    reicht aber in einer katholischen Kirche der Begleiterin oder dem
    Begleiter Weihwasser.
    AUF DER TREPPE.
    Es gab einmal eine Zeit, die sehr puritanisch war. Man hatte damals
    sogar besondere Regeln für das Treppensteigen erfunden: der Herr
    durfte nie hinter seiner Dame die Treppe hinaufgehen, er musste
    vorangehen und sich gleichzeitig so umwenden, dass er der Dame
    nicht den Anblick seines Rückens bot. Er musste ihr

Weitere Kostenlose Bücher