Der Gute Ton 1950
sollen sich nicht wundern, wenn
man sie nicht ernst nimmt und sie unnatürlich findet. Andere wieder
scheinen beschlossen zu haben, stets eine verächtliche Miene zur Schau
zu tragen, die sie gelegentlich durch ein Monokel noch betonen,
obwohl diese Mode längst vorbei ist. Auch sie werden nicht ernst
genommen. Auch die gespielte Leutseligkeit täuscht niemand mehr.
Warum begrüsst man jemanden, den man zum erstenmal sieht,
übermässig herzlich und mit einem gütigen Auf-die-SchuIter-Klopfen?
Wir sollten uns bemühen, natürlich und einfach zu sein, denn nur das
Natürliche ist schön und angenehm. Anteilnahme kann bezeugt
werden, ohne dass man dazu Grimassen schneidet, wie sie der
stumme Film in Grossaufnahmen zeigte, die das Wort ersetzen
sollten. Es fällt uns heute schwer, ernst zu bleiben, wenn wir einen
dieser Filmstreifen sehen. Wer diese Filmmimik ins tägliche Leben
überträgt, würde wahrscheinlich über sich selbst lachen, sähe er sich
im Spiegel.
DER TICK.
Wir leben in einem nervösen Jahrhundert und müssen, so gut es
geht, unserem Nächsten den Anblick unserer Nervosität ersparen,
ohne ins Gegenteil, ins Phlegma zu verfallen. Wir sollten in der
Oeffentlichkeit unsere nervösen Angewohnheiten möglichst
unterdrücken. Es ist unschön, sich ständig zu kratzen, um einen
eingebildeten Floh oder eine nicht vorhandene Schnake zu suchen. Von
jenen, die ihre Nägel kauen, ganz zu schweigen. Andere wieder, die
keine solch unästhetischen Angewohnheiten haben, können dafür
keine Minute still sitzen. Sie rutschen auf ihrem Stuhl hin und her, oder
sie laufen beim Sprechen im Zimmer auf und ab. Andere spielen mit
einer Streichholzschachtel oder mit ihrem Schlüsselbund. Vielleicht
hören sie dieses Geräusch gern, die sie Umgebenden aber sicher
weniger. Mit Energie kann man diese Nervosität überwinden.
Wir haben hier natürlich nur von dummen nervösen
Angewohnheiten gesprochen, nicht von kranken Nerven. Denn
Krankheiten unterliegen nicht den Gesetzen des guten Tons.
IV.
SEID GÜTIG UND RÜCKSICHTSVOLL ZU UNBEKANNTEN
Nächstenliebe lebt mit tausend Seelen,
Egoismus mit einer einzigen und die ist erbärmlich.
Marie von Ebner-Eschenbach
Wie alle Tugenden ist der Ursprung der Höflichkeit nicht Egoismus
sondern Nächstenliebe. Wir sollen darum nicht nur zu Bekannten gütig
und rücksichtsvoll sein: wir haben die Pflicht, auch zu Unbekannten
höflich zu sein. Das heisst zu jenen Menschen, deren Leben mit dem
unseren nichts gemein hat, ausser dass wir eines Tages Nachbarn in
der Strassenbahn waren oder einmal zu gleicher Zeit die gleiche
Treppe oder den gleichen Aufzug benutzten.
AUF DER STRASSE.
Die Höflichkeit dem Unbekannten gegenüber fängt für uns auf der
Strasse an. Auf der Strasse sollte der Mann an die ritterliche
Erziehung des Mittelalters denken und die Frau vor allen drohenden
Gefahren schützen. Glauben Sie nicht, dass der gute Ton ein
besonderes Verhalten für den Fall vorschreibt, dass eine Frau tätlich
angegriffen wird. Das gehört nicht mehr in das Gebiet der Höflichkeit;
die Höflichkeit erstreckt sich nur auf die Gefahren, die der Verkehr auf
der Strasse mitsich-bringt. Der Mann überlässt der Frau den
Bürgersteig. Er selbst muss auf der Seite des Bordsteins gehen. Wenn
der Bürgersteig zu schmal wird, tritt er auf die Strasse hinunter, um die
Dame vorgehen oder eine andere vorbeizulassen. Ein jüngerer Mann
tritt auch vor einem älteren Herrn zurück. Eine jüngere Dame handelt
einer älteren Dame gegenüber ebenso.
AN DER TÜRE.
Diese Regeln gelten nicht allein für die Strasse. Sie müssen auch bei
vielen anderen Gelegenheiten beachtet werden, zum Beispiel beim
Betreten oder Verlassen eines Hauses. Der Herr, der vor einer Dame
oder einem älteren Herrn zurücktritt, lüftet den Hut, die Dame drückt
ihren Dank durch leichtes Nicken des Kopfes oder ein diskretes
Lächeln aus. Es sei hier erwähnt, dass man a n der Kirchentür die
Regeln des Vorrangs nicht beachtet. Man tritt ein, wie man kommt,
reicht aber in einer katholischen Kirche der Begleiterin oder dem
Begleiter Weihwasser.
AUF DER TREPPE.
Es gab einmal eine Zeit, die sehr puritanisch war. Man hatte damals
sogar besondere Regeln für das Treppensteigen erfunden: der Herr
durfte nie hinter seiner Dame die Treppe hinaufgehen, er musste
vorangehen und sich gleichzeitig so umwenden, dass er der Dame
nicht den Anblick seines Rückens bot. Er musste ihr
Weitere Kostenlose Bücher